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Ein Jahr nach dem Fall von Mossul

 

Die Einnahme der irakischen Metropole Mossul Anfang Juni 2014 war nicht die Geburtsstunde des „Islamischen Staates“, die Wurzeln der Terrorgruppe sind Jahre alt, und auch die Vorbereitung auf die Übernahme der zweitgrößten Stadt des Irak begann Monate vor ihrer Erstürmung. Aber der Fall von Mossul ist trotzdem ein wichtiges Datum. Erst danach fühlte sich der IS stark und stabil genug, wenige Wochen später ein „Kalifat“ auszurufen, obwohl er schon zuvor, vor allem in Syrien, Territorium gehalten hatte.

Deshalb ist es auch gerechtfertigt, an diesem Jahrestag kurz innezuhalten. Ich will aber keine klassische Bilanz ziehen. Stattdessen möchte ich das Augenmerk auf drei Gedanken lenken, die mich derzeit besonders umtreiben.

1.- Der IS ahmt nicht mehr nach, er schafft etwas Neues

Die Wurzeln des „Islamischen Staates“ liegen im dschihadistischen Widerstand gegen die US-Invasion nach 2003. Exakt 3.164 Tage: So gab der IS heute Morgen sein Alter an; der Zählerstand auf den wichtigsten Pro-IS-Websites springt jeden Tag um. In der weitaus längsten Zeit seiner Existenz hat der IS keine bedeutenden ideologischen Schriften verfertigt. Er hat das „globale dschihadistische Projekt“ vor allem durch Taten vorangetrieben: Durch äußerst brutale Hinrichtungen, durch das gezielte Schüren eines sunnitisch-schiitischen Bürgerkrieges im Irak. Seine wichtigsten Anführer, allen voran die Gründungsfigur Abu Musab al-Sarkawi, fielen nie durch Intellektualismus auf. Sie äußerten sich, im Vergleich zu Osama bin Laden und Konsorten, zumeist selten und knapp. Und Sarkawi bellte und brüllte dabei meistens. Ideologisch lag der IS auf Al-Kaida-Linie. Mehr wollte, mehr brauchte niemand wissen.

Seit ein paar Monaten ist das anders. Denn der IS ist jetzt ein Pionier unter den dschihadistischen Gruppen: Er regiert. Und zwar nicht ein Dorf oder zwei, sondern Großstädte. Unter seiner erzwungenen Herrschaft leben schätzungsweise sechs Millionen Menschen. Das hat Konsequenzen. Die Terrorgruppe musste lernen, eine Verwaltung aufzubauen. Bis jetzt ist sie darin nicht besonders gut, aber sie wird besser, und es ist dumm, das nicht zur Kenntnis zu nehmen. Bis, ganz grob, Anfang dieses Jahres scheint der IS vielerorts improvisiert zu haben. Jetzt gibt es so etwas wie Regeln, die kalifatsweit gelten.

In dem Aufsatz Caliphate of Law in Foreign Affairs haben Andrew F. March und Mara Revkin herausgearbeitet, wie der IS mittlerweile eine Art stehende Rechtsprechung etabliert hat. Das ist, für den IS, ein ziemlich großer Schritt. Er kann auf diese Weise seinen „Bürgern“ demonstrieren, dass er nicht willkürlich straft, sondern vielmehr auf der Grundlage zum Beispiel von Fatwas, islamischen Rechtsgutachten, welche die Kalifatsspitze sanktioniert hat. Es ist so etwas wie der Versuch, einen dschihadistischen Rechtsstaat aufzubauen, in dem etwa auch IS-Kämpfer für Missetaten angezeigt werden dürfen. Tatsächlich ist es mehr als nur ein Versuch. Es passiert. Ob es uns gefällt oder nicht.

March und Revkin sprechen zu Recht von einer großen Herausforderung aller bisherigen dschihadistischen Ideologen – der IS ahmt nicht mehr nach, er beruft sich nicht mehr (nur) auf andere, er schafft Tatsachen. Das ist deshalb bedeutsam, weil der IS nun in der ideologischen Offensive ist. Es ist für andere (und ja: moderatere) Dschihadisten nicht mehr so leicht angreifbar, weil er unzweifelhaft Erfahrungen macht, die andere nie gemacht haben. Zugespitzt: Auch andere träumen vom „Kalifat“; aber als die Experten dafür werden sie derzeit nicht gerade angesehen.

 

2.- Der IS wird nicht (allein) mit Ideen, sondern mit Taten besiegt

In den letzten Monaten war vor allem im Westen immer wieder dasselbe Argument zu hören, auf Terrorkonferenzen, in Ministerien, auch in Redaktionen: Wenn der IS so attraktiv ist, dass unsere Jugendlichen sich ihm anschließen, müssen wir seine Ideen bekämpfen.

Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Jedenfalls nicht allein.

Denn es sind nicht nur die Ideen, die den IS attraktiv machen. Sein Erfolg gründet auch auf der Tatsache, dass die Dschihadisten schlicht aktiver sind, umtriebiger, enthusiastischer als ihre Gegner. In vielen arabischen Ländern sind es die radikalen Gruppen, die Tag und Nacht um neue Anhänger buhlen, ihre Gedanken und Narrative verbreiten, Geld sammeln, etc. In der Summe bedeutet das einen großen Vorsprung.

Denn die Gegenseite, beziehungsweise Gegenseiten, sind nicht so engagiert. In der arabischen Welt oft aus Angst, manchmal aus Hoffnungslosigkeit, gelegentlich auch aus Faulheit oder Ignoranz. Und im Westen? Vielleicht brauchen wir gar nicht so sehr neue Ideen, sondern eher mehr Energie und Leidenschaft für die Ideen, die wir bereits jetzt vertreten. Nur dass wir sie eben oft lediglich „haben“, aber nicht wirklich: vertreten.

Ich weiß, das ist nur ein Seitenstrang. Es gibt auch eine militärisch Komponente, und es wäre noch fataler, wenn wir den IS nicht militärisch bekämpfen würden (was ja auch wirklich eher in die Kategorie „Tat“ fällt). Aber es ist ein wichtiger Seitenstrang. Seinetwegen sind Dschihadisten heute so zahlreich, und seinetwegen konnte der IS überhaupt so stark werden, dass wir ihn heute bebomben müssen.

 

3.- Die Samen für kommende Terrorgruppen sind schon gesät 

Und was wenn es gar nicht nur um den IS geht? Tja. Die Wahrheit ist: Es geht tatsächlich gar nicht nur um den IS. Es geht nicht um 20.000 oder 30.000 IS-Kämpfer allein. Es geht auch um die Hunderttausenden Kinder, die derzeit im Kalifat leben und auf absehbare Zeit einer Gehirnwäsche ausgesetzt sein werden, bei der ich mich frage, wie sie jemals wieder rückgängig gemacht werden soll.

Und was ist mit den Kindern der zum Tode verurteilten oder eingekerkerten Muslimbrüder in Ägypten? Wen werden sie wohl zu hassen lernen? An welche Methoden wird man sie wohl heranführen? Was die ägyptische Regierung mit den Muslimbrüdern anstellt, ist eine Parallele zu dem, was in Ägypten vor 40 Jahren geschah. Und was ist damals daraus entstanden? Dschihadistische Gruppen, die sich im Untergrund radikalisierten und sich später mit Al-Kaida verbündeten.

Es ist ein Elend, aber es gehört zu einer realistischen Einschätzung dazu: Schon jetzt ist die Saat ausgesät. Das Ende des IS, so sehr man es sich wünschen muss, wäre ziemlich sicher nicht das Ende des dschihadistischen Terrorismus‘ im Nahen Osten. Wir stehen vor einem Generationsproblem.