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Wie tickt der IS? (1)

 

Nur weil der „Islamische Staat“ die Reden des selbst ernannten Kalifen Abu Bakr al-Bagdadi oder seines Sprechers Abu Mohammad al-Adnani mittlerweile auch auf Deutsch, Englisch oder Französisch veröffentlicht, sind diese noch nicht gleich verständlich. Wohl erschließt sich der generelle Sinn; viele Passagen dürften jenen Lesern, die sich nie zuvor mit islamistischer Ideologie oder arabischer Geschichte befasst haben, angesichts der zahllosen Anspielungen aber unklar erscheinen.

Man könnte es dabei bewenden lassen: eine obskure Ideologie von Mördern; die Taten sprechen ohnehin für sich; warum Zeit damit verschwenden, diese Texte zu decodieren?

Ich sehe das anders. Es schadet nicht, den IS besser zu verstehen. Es macht es leichter, seine Absichten einzuschätzen. Es hilft, seine Propaganda zu durchschauen.

Deshalb der Beginn eines Experiments: Ein Grundkurs in dschihadistischer Ideologie, ausgehend von Texten des IS oder aus dessen Umfeld. In der ersten Folge dieser losen Reihe wird es, wegen der grundsätzlichen Bedeutung, um das Bild gehen, das sich der IS von der Geschichte macht. Die nächste Folge wird sich wahrscheinlich mit wichtigen theologischen Ideen befassen.

DAS GESCHICHTSBILD DES „ISLAMISCHEN STAATES“

Wir sind an eine scharfe Trennung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewöhnt: Etwas war, etwas ist, etwas wird sein. Diese drei Zustände vermischen sich nicht und sind in ihrer Reihenfolge nicht austauschbar. Unser Geschichtsbild ist linear.

Der Dschihadismus sieht das anders. Man kann es sich so vorstellen, als ob IS-Ideologen zwar genau wie wir eine Armbanduhr tragen – nur dass auf ihrer Uhr die Ziffern fehlen. Zeit vergeht zwar; aber es bedeutet nichts, dass sie vergeht.

Nehmen wir zur Illustration ein Zitat von IS-Sprecher Al-Adnani aus dem vergangenen Juni. Über die IS-Kämpfer sagte er (hier die Rede als PDF):

„Sie erteilten dem Nationalismus und den Rufen der Dschahiliyya eine Absage.“

Was bedeutet das?

Dschahiliyya“ ist ein (arabischer) Begriff aus dem Koran und der islamischen Geistesgeschichte. Er lässt sich in etwa mit „Unwissenheit“ übersetzen. Dieser Begriff bezeichnete ursprünglich die Zeit vor dem Erscheinen des Propheten Mohammed – also genauer: „die Zeit der Unwissenheit“ – die durch sein Erscheinen beendet wurde. Dichtung aus vorislamischer Zeit zum Beispiel ist in diesem Sinne Dichtung der Dschahiliyya, in der die Menschen entweder Heiden und Götzenanbeter gewesen waren, oder nach den (aus islamischer Sicht) zwar durchaus göttlichen, aber unvollständigen oder korrumpierten Überlieferungen der Christen und Juden gelebt hatten.

Wie lässt es sich nun erklären, dass Al-Adnani in seinem Zitat von den „Rufen der Dschahiliyya„spricht, wenn diese Epoche der Unwissenheit doch beendet ist – historisch erledigt sozusagen?

Der Grund ist folgender: In der dschihadistischen Ideologie lebt eine Umdeutung des Begriffes der Dschahiliyya fort, die Islamisten Anfang des 20. Jahrhunderts vorgenommen haben. Wir stoßen in aller Deutlichkeit auf diese Umdeutung in den Schriften von Sayyid Qutb, einem der zentralen Denker des Islamismus.

Qutb argumentierte, es gebe nur zwei Arten von Gesellschaften: eine islamische – oder die der Dschahiliyya. Damit machte er den Begriff transzendent und enthistorisierte ihn: Wer auch im Heute noch nach anderen als den Vorstellungen der Islamisten lebt, der lebt in der Dschahiliyya. Ganz so, als wäre der Prophet nie erschienen. Mit anderen Worten: Aus einer zeitlichen Abfolge wurde ein Nebeneinander, aus einer historischen Trennlinie eine heilsgeschichtliche und ideologische. Noch einfacher gesagt: Statt „vor“ beziehungsweise „nach“ Mohammed, hieß es fortan: „für“ beziehungsweise „gegen“ Mohammed. Dschihadisten, auch in dieser Hinsicht der radikalste Auswuchs des Islamismus, haben die Umdeutung auf die Spitze getrieben. Für sie ist sie regelrecht real.

In der Konsequenz entsteht eine Art gedankliches Wurmloch, das es erlaubt, zwischen dem, was wir für voneinander getrennte Zustände des Vergangenen und des Gegenwärtigen halten, hin- und herzuspringen – und zwar nicht nur symbolisch.

Also ist aus dieser Sicht gar keine Zeit vergangen zwischen dem 7. Jahrhundert und der Gegenwart. Jedenfalls heilsgeschichtlich betrachtet nicht. Die Konflikte der Gegenwart sind denen der Vergangenheit nicht ähnlich oder mit ihnen vergleichbar – es sind genau die selben. Aus diesem Grund vergleichen IS-Kämpfer sich zum Beispiel weniger mit den Gefährten des Propheten Mohammed, die damals an dessen Seite kämpften, als dass sie sich vielmehr zu ihnen zählen.

Wenn wir bei der Lektüre von IS-Texten gelegentlich das Gefühl haben, dass die Zeitebenen verrutschen, liegt es also daran, dass wir es mit einem für uns ungewohnten, in Teilen nicht-linearen Geschichtsbild zu tun haben.

Warum nur in Teilen? Weil es dabei nicht widerspruchsfrei zugeht. Ein anderes Beispiel von Al-Adnani aus dem März 2015 belegt das (hier der Text als PDF):

„Und wenn unsere Vorfahren gestern die Römer, die Perser und die vom Glauben Abgefallenen bekämpften, dann sind wir stolz darauf, diese heute zu bekämpfen!“

Diese! Nicht etwa: ihre Wiedergänger, oder: ihre Nachfahren.

Aber zugleich: gestern im Gegensatz zu heute.

Zeit ist also nur in einem profanen Sinne vergangen – aber das, was wir Weltgeschichte nennen würden, ist für Dschihadisten nur ein sich immer wiederholendes Replay des heilsgeschichtlich relevanten Grundkonflikts: des Kampfes zwischen wahren Gläubigen auf der einen und den Ungläubigen beziehungsweise den Agenten des Bösen auf der anderen Seite.

Das Böse nimmt in diesem Konflikt lediglich immer neue Manifestationen an. Deshalb zum Beispiel bezeichnete Osama bin Laden den US-Präsidenten George W. Bush gerne als „Hubal“ – also mit dem Namen einer vorislamischen (dschahilitischen!) Gottheit auf der Arabischen Halbinsel. Auch bin Laden stellte in seinen Augen keinen Vergleich an. Er identifizierte Bush vielmehr als einen der Diener Satans – nur eben in neuer Gestalt.

Dieses Geschichtsbild erklärt einen erklecklichen Teil der historischen Begrifflichkeiten in dschihadistischen Veröffentlichungen. Der IS spricht zum Beispiel selten über „den Westen“. Er sagt stattdessen häufig: „die Römer“ oder „die Kreuzfahrer“. Auch hier handelt es sich aus ihrer Sicht nicht um Vergleiche. (Mit den Römern sind freilich die Byzantiner gemeint: das oströmische Reich.)

Nach dschihadistischer Ansicht endet der Kampf zwischen Glauben und Unglauben mit dem Ende der Welt. Wann dieser „Tag der Auferstehung“ kommt, dafür gibt es ganz verschiedene Anzeichen. Einige Überlieferungen besagen, dass es eine Art Endschlacht nahe dem Ort Dabiq geben wird – der liegt ausgerechnet in Syrien. Deswegen heißt auch das offizielle IS-Magazin so. Und deswegen erklärte Al-Adnani im Januar (hier der Text als PDF):

„Mit Gottes Kraft und Stärke wird dieser Kreuzzug ein Ende finden, und es wird, mit Gottes Erlaubnis, ein Aufeinandertreffen geben in Jerusalem und in Rom, davor allerdings werden die Kreuzritter-Armeen in Dabiq besiegt werden.“

Diese heilsgeschichtliche Deutung der Weltgeschichte spielt für Dschihadisten eine große Rolle. Aber sie wird nicht vollkommen durchgehalten. Begriffe wie „Kreuzfahrer“, „Römer“ oder „Safawiden“ (eine mittelalterliche, schiitische Dynastie in Persien) verraten ja, dass es sehr wohl historische Phänomene gibt, von denen auch Dschihadisten annehmen, dass es sie im 7. Jahrhundert noch nicht gab, und die sie als prägend verstehen.

Aber welche Ideologie ist schon widerspruchsfrei? Wichtig ist eher, sich klarzumachen, dass manches, was uns obskur oder verrückt erscheint, in den Augen der Dschihadisten von vollendeter Sinnhaftigkeit ist.