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Hochkonjunktur für Strafen aller Art

 
Die Forderung nach Strafe oder gar nach Gefängnisstrafe hat hierzulande wieder einmal Hochkonjunktur. Ob gegen strafrechtlich auffällig gewordene Migranten oder gegen rechtsradikale Gewalttäter – mehr und mehr politische und journalistische Kommentatoren messen die Ernsthaftigkeit der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit bestimmten Themen daran, ob die Justiz Untersuchungshaft verhängt oder harte Strafen ausspricht. Da werden fleißig alle Klischees bedient – von der generalpräventiven Wirkung von Gefängnisstrafen, gerne auch in Kombination mit einem Malus für Nichtdeutsche („Missbrauch des Gastrechts“).
Selbst unverhältnismäßig hohe Gefängnisstrafen für Ersttäter werden bejubelt – so beispielsweise im Kommentar der langjährigen Gerichtsreporterin des Spiegels im Falle eines Urteils des Amtsgerichts Köln gegen einen neunzehnjährigen aus dem Irak stammenden Sockendieb zu sechs Monaten Freiheitsentzug: „Er hat in Deutschland keine familiären Bindungen, streunt durch die Gegend und geht keiner Arbeit nach. Was spricht dafür, dass er sich künftig an Recht und Gesetz halten wird?“ Und: Die „harte Strafe“ habe nichts mit der „Herkunft des jungen Mannes zu tun“.
So, so…
Wo eine Gesellschaft landen kann, wenn die Strafjustiz zu einer von rassistischen Vorurteilen durchsetzten Klassenjustiz gegen diskriminierte und unterprivilegierte Bevölkerungsteile wird, zeigt sich seit Jahrzehnten in den USA. Wer die Gründe dafür theoretisch nachvollziehen möchte, kann die Artikel und Bücher von Loic Wacquant zur Gefängnisindustrie oder den Klassiker von Otto Kirchheimer und Georg Rusche Sozialstruktur und Strafvollzug lesen. Wer es gerne etwas konkreter und plastischer hat, sollte Bryan Stevenson Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA studieren. Der Jurist Stevenson ist nicht nur als Professor in New York akademisch unterwegs, sondern in einer Vielzahl von Projekten beteiligt, unter anderem der Equal Justice Initiative. In seinem neuen Buch geht er nach seinen eigenen Worten „der Frage nach, mit welcher Leichtfertigkeit wir in diesem Land Menschen verurteilen und welches Unrecht wir begehen, wenn wir den Schwächsten unserer Gesellschaft mit Angst, Zorn und Distanz begegnen“.
Es geht nicht darum, einmal mehr mit dem Finger auf die USA zu zeigen oder gar auf noch strafwütigere Länder wie Russland, Vietnam oder China. Vielmehr sollten wir in diesem Fall von den USA lernen – von ihren Fehlern, die Menschen wie Stevenson immer wieder gnadenlos aufdecken. Die Fehler beginnen bereits bei der polizeilichen Untersuchung von Straftaten, die durch Vorurteile und vorschnelle Festlegung auf bestimmte Personen die Aufklärung behindert und unschuldige Menschen enorm schädigt. Aber auch den Fehler, zu glauben, noch mehr und noch härtere Strafen würden bei der Bekämpfung gesellschaftlicher Probleme helfen. Stevenson erzählt vor allem Geschichten aus seinem Kampf gegen die Todesstrafe – etwa den Fall von Walter McMillian aus Alabama, den er als junger Anwalt vertreten und später bis zu dessen Tod begleitet hat. McMillian wurde 1988 wegen des Mordes an einer Frau zum Tode verurteilt, obwohl er ein Alibi nachweisen konnte, er war zur Tatzeit auf einem Grillfest. Nach jahrelangem Kampf seiner Angehörigen und Anwälte wurde er 1993 schließlich entlassen, 2013 starb er verarmt und geistig verwirrt. Der berührende Fall eines Einzelnen. Doch Stevenson belegt mit weiteren Beispielen aus seiner verdienstvollen Arbeit: McMillian ist mitnichten ein Einzelfall.