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Mit Anands Sieg stagniert das Schach

 

In der drittletzten Runde des Kandidatenturniers hatte sich Viswanathan Anand gegen Dmitry Andrejkin eine Gewinnstellung erarbeitet. Nur noch eine Berechnung war notwendig für den vierten Sieg des Inders. Es sah leicht aus, war aber nicht völlig ohne Risiko. Doch um seinen Vorsprung nicht zu gefährden, wiederholte Anand seine Züge. Durch dieses Remis war er zwei Runden vor Schluss praktisch nicht mehr einholbar. Ein gutes Pferd springt nicht höher, als es muss.


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Vishwanathan Anand (links) beim Kandidatenturnier neben Sergej Karjakin. (Copyright: www.ugrasport.com)

Anand spielte seine zwei restlichen Partien ebenfalls unentschieden und gewann das Kandidatenturnier mit 8,5 Punkten aus 14 Partien und einem Zähler Vorsprung auf Sergej Karjakin. Zum ersten Mal seit dem Match Kasparow gegen Karpow 1990 wird die Schachwelt damit die Wiederauflage eines WM-Duells erleben. Anand wird im November versuchen, den WM-Titel von Magnus Carlsen zurückzuholen. Werden seine Siegchancen dann höher sein als zuletzt, als er in Chennai von Carlsen fast vorgeführt wurde?

Zunächst ein Blick auf Anands Leistung in Sibirien, wo er überraschend, aber verdient gewann. Aus einem ausgeglichenen Feld, wo jeder jeden schlagen konnte (und es auch tat), ragte Anand unbesiegt hervor. In keiner Partie geriet er wirklich in Gefahr, die wenigen Male, als er es musste, verteidigte er sich mit computerartiger Präzision. Seine Stärke bezog er aus der Schwäche der anderen. Er fand als Einziger das rechte Maß zwischen geringer Flexibilität und wilder Experimentiererei.

Während Aronjan & Co wohl dachten, sie müssten Carlsens Art des Schachs kopieren, spielte Anand einfach so wie immer, nur noch besser. Eine Lehre, die er aus dem verlorenen Kampf gegen Carlsen gezogen haben dürfte, ist, dass man das Genie kaum kopieren kann. Wie von Johannes Fischer gelernt, verlagert Carlsen den Schwerpunkt von der Eröffnung auf die späteren Phasen der Partie und versucht dort sein Spielverständnis zur Geltung zu bringen. Die Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Strategie ist es aber, Carlsens Spielverständnis zu besitzen, das Gespür für kleinste Chancen und der Wille sie auszunutzen. Anands Gegner scheinen all das nicht zu haben.

Nun kommt es im November also erneut zum Duell Carlsen-Anand. In einem Video, welches Carlsen Freitag veröffentlichte, zeigt sich der Norweger herablassend überrascht über Anands Sieg in Sibirien. Angst, gegen seinen fast doppelt so alten Herausforderer zu verlieren, scheint Carlsen nicht zu haben. Indem er dieses Video überhaupt erstellt und offen die Leistungen der Kandidaten be- und verurteilt und ihnen Hasardspiel im „Street-Fighting-Modus“ und schlechte Defensivqualitäten vorwirft, stellt er sich über sie. Carlsen lobt Anands Pragmatismus, der dem Inder den Turniersieg gebracht hat, und es klingt so, als gehe Carlsen davon aus, mit diesem Pragmatismus locker fertig zu werden. Er selbst hätte ja auch genug davon.

Carlsens Video ist kein fairer Zug, Recht könnte er aber trotzdem behalten, das Recht des Stärkeren. Ein Kandidatenturnier mit acht Spielern ist etwas anderes als ein WM-Zweikampf, im Gegensatz zu Hikaru Nakamura, der Carlsen zuletzt immer wieder vor Probleme stellte, hat Anand schon „bewiesen“, dass er gegen den Weltmeister wenig ausrichten kann. Man kann es auch so sagen: Hätte sich ein anderer der acht Kandidaten für das WM-Match qualifiziert, wäre er gegen Carlsen auch nicht Favorit, zu weit hat dieser die Konkurrenz zurzeit in der Weltrangliste und vom Spielverständnis her abgehängt. Doch wie gerade in Chanty-Mansijsk gesehen: Das Schach der Weltspitze liegt im Wandel, viele versuchen es zumindest, ein bisschen so zu spielen wie Carlsen, das große leuchtende Vorbild, auch wenn es bisher noch nicht richtig klappen mag.

Anands Sieg in Sibirien bedeutet aber keinen Wandel und keinen Fortschritt, sondern Stagnation. Wenn jemand anderes Herausforderer geworden wäre, egal ob Aronjan, Nakamura oder sonst wer – die Chance, Carlsen zu besiegen, wäre nicht viel größer, aber sie hätte existiert.

Als Anands Sieg feststand nach dem vorletzten Remis, wirkte er erfreut und gelöst. Er hat es nach der Schmach, dem WM-Verlust in seiner Heimatstadt Chennai allen bewiesen, dass er noch auf höchstem Niveau Schach spielen kann. Genauso wird er es im November versuchen, dann schon mit fast 45. Die heimische Kulisse wird dabei nicht noch einmal einengenden Druck auf ihn ausüben. Laut Präsident der Fide wird die nächste WM wohl in einer europäischen Metropole stattfinden. Doch egal wo, gegen Carlsen wird Anands Pferd so hoch springen müssen wie nie zuvor.