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Weltmeisterin im Elfmeterschießen

 

Bislang war die Ukrainerin Marija Musytschuk nur Experten ein Begriff. Das dürfte sich nun ändern. Am Sonntag wurde Marija Musytschuk in Sotschi Schach-Weltmeisterin.

Ein einziges Mal sah ich sie bisher live – im Sommer 2002 in Dresden. Schon damals wunderte ich mich, wie ein so kleines Mädchen, das gerade mal neun Jahre alt war, schon so kraftvoll und abgezockt Schach spielen konnte. Danach hat man in der Schachwelt eher wenig von ihr gehört, obwohl sie bei kaum einer Jugendweltmeisterschaft eine Medaille in ihrer Altersklasse verpasste. Zu sehr stand sie im Schatten ihrer älteren und noch etwas stärkeren Schwester Anna, die auch als eine von zwei Dutzend Frauen weltweit den (männlichen) Großmeistertitel trägt.

Maria hingegen lässt sich seit Jahren nur selten bei großen Turnieren blicken. Ihre Welt sind Frauenturniere- und Ligen, außerhalb derer die Weltranglistenzwölfte bisher weitestgehend unbekannt war. Bisher.

Nach dem Prinzip „variatio delectat“ sieht der Weltschachverband Fide für die Frauenweltmeisterschaft einen jährlich wechselnden Modus vor. Der höchste Titel wird in einem Jahr in einem Zweikampf wie gerade bei den Männern, im anderen Jahr in einer K.-o.-Runde mit 64 Teilnehmerinnen vergeben. Dieses Jahr war der Ausscheidungsmodus dran, der einige Jahre lang auch bei den Männern zur Ermittlung des Weltmeisters diente, aber verworfen wurde, weil die Ergebnisse zu stark von Zufallen geprägt waren.

Bei den Frauen scheint es niemanden zu stören, vielleicht gar erwünscht zu sein, die Partien den Launen der Schachgöttin Caissa zu überlassen. 24 von 63 Begegnungen wurden in Sotschi im Schnell- oder gar Blitzschach entschieden. Dabei besitzen Blitzpartien zur Ermittlung einer Weltmeisterin ungefähr so viel Aussagekraft, wie wenn im Fußball der Masseur, Platzwart und Busfahrer im Falle eines Gleichstands an den Elfmeterpunkt müssen. Die nervliche Anspannung, unter permanentem Zeitdruck fünfstellige Beträge ausspielen zu müssen, lässt Gehirnwindungen und Finger verrückt spielen, worunter die Qualität der getroffenen Entscheidungen extrem leiden kann. Kurzum, die Zuschauer kamen im vergangenen Monat durchaus auf ihre Kosten, besonders wenn sie eher an den Unfällen als am Rennen interessiert waren.

Dennoch hat die neue Weltmeisterin Marija Musytschuk den Titel absolut verdient gewonnen. Im Verlaufe des Turniers bewies sie mehrfach, dass sie über die solideste Eröffnungsvorbereitung, das wachsamste taktische Auge und die stärksten Nerven verfügte. Auf dem Weg zum Titel musste sie sich durch vier Tiebreaks kämpfen, sie besiegte unter anderem die Ex-Weltmeisterin Antoaneta Stefanowa und die absolute Topfavoritin Humpy Koneru aus Indien, die vorher alle ihre drei Matches mit 2:0 gewann. Schließlich besiegte sie im Finale (welches dankenswerter Weise auf vier Partien ausgelegt war) ihre gute Freundin und Fast-Autorin eines Buchs über Chess-Kamasutra, Natalia Pogonina aus Russland. Die hatte sich in Sotschi den Beinamen „Comeback-Queen“ erarbeitet, sie konnte drei Rückstände aufholen.

Auf den besten Beistand aller Teilnehmerinnen konnte Maria ebenfalls zählen, ihre Schwester Anna blieb auch nach ihrem Ausscheiden im Viertelfinale vor Ort und unterstützte die neue Weltmeisterin moralisch und schachlich. Als einzige Zuschauerin harrte Anna oft stoisch am Brett ihrer kleinen Schwester aus und drückte ihr die Daumen.

Musytschuk hat sich durch den WM-Sieg quasi honoris causas auch den Großmeistertitel der Männer gesichert. In der Weltrangliste aber verschlechterte sie sich sogar. Sie bleibt auf Platz 12, büßte aber einige Elo-Punkte ein, weil Schnell- und Blitzschachpartien nicht zählen.

Womöglich wird die Ukrainerin auch die Weltmeisterin mit der kürzesten Amtsdauer aller Zeiten bleiben. Die bisherige Weltmeisterin und aktuell deutlich beste Spielerin der Welt Hou Yifan trat nicht in Sotschi an, um den Titel zu verteidigen. Der Grund: Die WM war ursprünglich für den vergangenen Herbst anberaumt und kurz vorher abgesagt worden. Für den jetzigen Zeitraum hatte die Chinesin schon bei einem Turnier auf Hawaii zugesagt. Zumal sich kein Modus weniger gut dazu eignet, Hou Yifans Dominanz zu untermauern.

Als Siegerin des Frauen-Grand-Prix-Zyklus hat sie aber das Recht, Musytschuk herauszufordern. Das soll bereits im kommenden Herbst passieren. Rechnerisch würde sie ein Match über zehn Partien etwa mit 7:3 gewinnen. Dementsprechend wenig ließ sich Musytschuk bisher über ihre Chancen für den Zweikampf entlocken, sie hoffe nur, „dass es zumindest knapp werde“, verkündete sie nach dem Titelgewinn. Und ob sie den Austragungsort Sotschi aufgrund der aktuellen politischen Lage brisant fand? Nein, sie wurde sehr gut empfangen, und habe auch sonst gute Erinnerungen an Sotschi gehabt. Auch das Spiellokal habe ihr sehr gut gefallen. „Besonders weil die Tische so kreativ im Raum angeordnet waren“, sagte sie.