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Althusman – heute wird’s spannend

Heute (1.12.) um 12 Uhr will die Uni Potsdam bekanntgeben, ob der niedersächsische Kultusminister Bernd Althusmann weiterhin seinen Doktortitel führen darf, oder ob er ihm aberkannt wird. Hier zur Orientierung noch einmal mein Kommentar aus dem Juli dazu:

Der neueste Plagiatsverdachtsfall zwingt alle, neu nachzudenken – auch wenn die Dinge im “Fall” Althusmann anders liegen als bei zu Guttenberg oder Koch-Mehrin. In einem Aufsehen erregenden Artikel meines Kollegen Martin Spiewak in der ZEIT, werden schwere Vorwürfe gegen den niedersächsischen Kultusminister Bernd Althusmann erhoben, der in diesem Jahr turnusgemäß auch Präsident der Kultusministerkonferenz ist: In seiner Doktorarbeit habe er entweder unsauber zitiert und damit wissenschaftliche Standards verletzt, oder er habe sogar systematisch unsauber zitiert, um zu verschleiern, dass er von anderen abgeschrieben habe. Das sind Vorwürfe ganz unterschiedlicher Qualität. Ersteres wäre eine Schlampigkeit, die der Wissenschaft abträglich ist. Letzteres würde die Doktorarbeit des Ministers als Plagiat qualifizieren; dann hätte er betrogen.

Wenn die Universität Potsdam, die den Minister seinerzeit promoviert hat, bei einer Nachprüfung nun feststellen sollte, dass er bei der Arbeit betrogen hat, dann muss sie ihm den Doktortitel aberkennen – und dann muss der Minister von seinen Ämtern zurücktreten. Da kann es keinen Zweifel geben.

Anders verhält es sich, wenn Althusmann “nur” unsauber zitiert hat. Denn dann trifft die Universität ein gehöriges Maß an Mitschuld. In seiner Doktorarbeit bedient sich der Minister sehr oft des schwammigen Hinweises “vergleiche”. Damit verweist er “irgendwie” darauf, dass andere Wissenschaftler sich auch mit dem Thema beschäftigt haben. Ob Althusmann deren Argumentation teilt oder ob er sie ablehnt, ob er sie zur Kenntnis genommen hat oder abgeschrieben hat, das ist unklar. Viele Doktorväter “verbieten” ihren Doktoranden deshalb das “Vergleiche”. Die Prüfer an der Uni Potsdam haben es durchgehen lassen. Althusmann kann daraus also durchaus geschlossen haben, dass diese Zitierweise in Ordnung sei. Dass die Arbeit inhaltliche Schwächen hat, war den Prüfern klar und wird auch von Althusmann nicht geleugnet. Die Arbeit wurde mit “rite” (ausreichend) benotet, die Note, mit der die Arbeit gerade noch als bestanden gilt und die äußerst selten vergeben wird. Dennoch: Auch Politiker haben das Recht auf eine schlechte Doktorarbeit. Ob es sie schmückt, ist eine andere Frage.

Es kann nun passieren (immer unterstellt, dass Althusmann nicht betrogen hat), dass die Universität bei einer nochmaligen Überprüfung der Arbeit zu dem Schluss kommt, dass sie doch keinen wissenschaftlichen Ertrag hat und/oder, dass die Zitierweise nun doch nicht wissenschaftlichen Standards genüge. Vielleicht (so genau kenne ich mich im Promotionsrecht nicht aus) entzieht sie ihm dann aus diesen Gründen den Titel – und macht sich so einen schlanken Fuß.

In diesem Fall wäre der Entzug des Titels für Althusmann zwar unangenehm, aber kein Rücktrittsgrund. Denn er hat sich, nachdem die Vorwürfe in der ZEIT bekannt wurden, so verhalten, wie man es von einem Politiker erwarten muss. Er hat weder den Guttenberg-Fehler gemacht (“die Vorwürfe sind abstrus”), noch den Koch-Mehrin-Fehler (“die Uni ist schuld”).

Er hat die Vorwürfe ernst genommen und sich für mögliche Fehler entschuldigt. Er stellt sich dem Verfahren der Universität Potsdam und verspricht vollkommene Transparenz.

Minister Althusmann hat erklärt, dass er seine Doktorarbeit “nach bestem Wissen” angefertigt und nicht bewusst plagiiert habe.

Bis zum Beweis des Gegenteils muss auch bei Politikern die Unschuldsvermutung gelten. Als überführter Schummler müsste Althusmann zurücktreten. Als Doktorand am Rande des Scheiterns könnte er mit einem blauen Auge im Amt bleiben. Und vielleicht anderen sogar ein Beispiel geben.

 

Hurrelmann fordert Staatsvertrag über einheitliche Schulstruktur in D

Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann fordert eine einheitliche Schulstruktur für alle Bundesländer. Neben dem Gymnasium solle es nur noch eine zweite Schulform geben, die auch zum Abitur führt und bundesweit den gleichen Namen trägt. In einem Gespräch mit der ZEIT fordert Hurrelmann die Bundesländer dazu auf, das in einem Staatsvertrag verbindlich festzuschreiben.
Das jetzige Durcheinander bei den Schulformen mache den Eltern die Orientierung unmöglich. „Zudem“, so Hurrelmann, „widerspricht das Durcheinander dem Grundgesetz, das gleichwertige Lebensverhältnisse fürs ganze Bundesgebiet festschreibt.“
So ein Vertrag widerspreche nicht der Kulturhoheit der Länder, auch die Hauptschule sei in den 1960er Jahren auf diesem Weg eingeführt worden, so Hurrelmann. „Wie die Länder die gemeinsame Schulstruktur dann ausfüllen, ist ihre Sache.“

Klaus Hurrelmann ist Professor für Bildungs- und Gesundheitswissenschaft an der Hertie School of Governance in Berlin.

Vor genau zwanzig Jahren hat Hurrelmann in einem ZEIT-Artikel das Zwei-Wege-Modell für die Schulstruktur gefordert: Neben dem Gymnasium solle es nur noch eine Schulform geben, an der gute Schüler auch das Abitur machen könnten.

Hier noch ein Kommentar von mir aus dem Jahr 2007, als sich die Hamburger CDU dem Zwei-Wege- (oder Zwei-Säulen-) Modell angeschlossen hat.

Sowie ein Interview meines Kollegen Martin Spiewak mit dem Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth zum gleichen Thema.

 

 

Arbeitet ein Schulhausmeister überwiegend geistig oder körperlich?

Eine dpa-Meldung zum Nachdenken:

Es hört sich nach einer Provinzposse an: In Barsinghausen bei Hannover wird über die Frage gestritten, ob der Hausmeister einer städtischen Schule gleichzeitig Ratsherr sein darf. Frank Marks war bei den Kommunalwahlen im September als unabhängiger Kandidat in den Stadtrat gewählt worden, inzwischen ist er Mitglied der Grünen. Jedoch dürfen sich Bedienstete der Verwaltung laut Gesetz eigentlich nicht als Kommunalpolitiker engagieren.
Eine Ausnahme gilt für Beschäftigte, die überwiegend körperlich arbeiten. Aus Sicht der Stadtspitze ist die Hausmeistertätigkeit aber überwiegend geistiger Natur. Der mit Angehörigen aller Fraktionen besetzte Wahlausschuss sah das anders und gab grünes Licht für den Hausmeister. Die Stadt prüfe nun mit der Kommunalaufsicht und eventuell mit dem Landeswahlleiter, ob sie Einspruch einlegen werde, sagte der stellvertretende Wahlleiter Peter Jülke am Dienstag.

 

Da waren’s nur noch zwei – Vom Verschwinden der CDU-Bildungspolitik(er)

Neulich wurde an dieser Stelle notiert, dass von den 16 deutschen Kultusminstern nur noch drei ein Parteibuch der CDU besäßen. Nun muss auch Harry Tesch, der christdemokratische Kultusminister Mecklenburg-Vorpommerns, sein Amt an einen Sozialdemokraten abgeben. Wenn sich künftig die beiden verbliebenen CDU-Kultusminister, Bernd Althusmann (Niedersachsen) und Roland Wöller (Sachsen) treffen, dann reicht es nicht einmal mehr zu einer Skatrunde.

Im November will die CDU ein neues Bildungsprogramm verabschieden. Doch wer soll das in Zukunft umsetzen?

 

Kommentar: Kultusminister Althusmann muss nicht zwangsläufig zurücktreten

Der neueste Plagiatsverdachtsfall zwingt alle, neu nachzudenken – auch wenn die Dinge im „Fall“ Althusmann anders liegen als bei zu Guttenberg oder Koch-Mehrin. In einem Aufsehen erregenden Artikel meines Kollegen Martin Spiewak in der ZEIT, werden schwere Vorwürfe gegen den niedersächsischen Kultusminister Bernd Althusmann erhoben, der in diesem Jahr turnusgemäß auch Präsident der Kultusministerkonferenz ist: In seiner Doktorarbeit habe er entweder unsauber zitiert und damit wissenschaftliche Standards verletzt, oder er habe sogar systematisch unsauber zitiert, um zu verschleiern, dass er von anderen abgeschrieben habe. Das sind Vorwürfe ganz unterschiedlicher Qualität. Ersteres wäre eine Schlampigkeit, die der Wissenschaft abträglich ist. Letzteres würde die Doktorarbeit des Ministers als Plagiat qualifizieren; dann hätte er betrogen.

Wenn die Universität Potsdam, die den Minister seinerzeit promoviert hat, bei einer Nachprüfung nun feststellen sollte, dass er bei der Arbeit betrogen hat, dann muss sie ihm den Doktortitel aberkennen – und dann muss der Minister von seinen Ämtern zurücktreten. Da kann es keinen Zweifel geben.

Anders verhält es sich, wenn Althusmann „nur“ unsauber zitiert hat. Denn dann trifft die Universität ein gehöriges Maß an Mitschuld. In seiner Doktorarbeit bedient sich der Minister sehr oft des schwammigen Hinweises „vergleiche“. Damit verweist er „irgendwie“ darauf, dass andere Wissenschaftler sich auch mit dem Thema beschäftigt haben. Ob Althusmann deren Argumentation teilt oder ob er sie ablehnt, ob er sie zur Kenntnis genommen hat oder abgeschrieben hat, das ist unklar. Viele Doktorväter „verbieten“ ihren Doktoranden deshalb das „Vergleiche“. Die Prüfer an der Uni Potsdam haben es durchgehen lassen. Althusmann kann daraus also durchaus geschlossen haben, dass diese Zitierweise in Ordnung sei. Dass die Arbeit inhaltliche Schwächen hat, war den Prüfern klar und wird auch von Althusmann nicht geleugnet. Die Arbeit wurde mit „rite“ (ausreichend) benotet, die Note, mit der die Arbeit gerade noch als bestanden gilt und die äußerst selten vergeben wird. Dennoch: Auch Politiker haben das Recht auf eine schlechte Doktorarbeit. Ob es sie schmückt, ist eine andere Frage.

Es kann nun passieren (immer unterstellt, dass Althusmann nicht betrogen hat), dass die Universität bei einer nochmaligen Überprüfung der Arbeit zu dem Schluss kommt, dass sie doch keinen wissenschaftlichen Ertrag hat und/oder, dass die Zitierweise nun doch nicht wissenschaftlichen Standards genüge. Vielleicht (so genau kenne ich mich im Promotionsrecht nicht aus) entzieht sie ihm dann aus diesen Gründen den Titel – und macht sich so einen schlanken Fuß.

In diesem Fall wäre der Entzug des Titels für Althusmann zwar unangenehm, aber kein Rücktrittsgrund. Denn er hat sich, nachdem die Vorwürfe in der ZEIT bekannt wurden, so verhalten, wie man es von einem Politiker erwarten muss. Er hat weder den Guttenberg-Fehler gemacht („die Vorwürfe sind abstrus“), noch den Koch-Mehrin-Fehler („die Uni ist schuld“).

Er hat die Vorwürfe ernst genommen und sich für mögliche Fehler entschuldigt. Er stellt sich dem Verfahren der Universität Potsdam und verspricht vollkommene Transparenz.

Minister Althusmann hat erklärt, dass er seine Doktorarbeit „nach bestem Wissen“ angefertigt und nicht bewusst plagiiert habe.

Bis zum Beweis des Gegenteils muss auch bei Politikern die Unschuldsvermutung gelten. Als überführter Schummler müsste Althusmann zurücktreten. Als Doktorand am Rande des Scheiterns könnte er mit einem blauen Auge im Amt bleiben. Und vielleicht anderen sogar ein Beispiel geben.

 

Schreibschrift oder Druckschrift?

Ob es einen neuen Streit in Hamburg über die Schulpolitik geben wird? Anlass wäre der gerade veröffentlichte Hamburger Bildungsplan für die Grundschule. Er sieht vor, den Schulen freizustellen, ob die Kinder statt Druckschrift und Schreibschrift nur noch eine einzige Schrift lernen – die sogenannte Grundschrift. Sie basiert auf der Druckschrift. Walter Scheuerl vom Verein „Wir wollen lernen“ spricht nun vom „Unbildungsplan“. Das Für und Wider der Grundschrift können Sie in dem ZEIT-Text von Angelika Dietrich nachlesen.

 

Zum Nachlesen: Die neue CDU-Bildungspolitik im Wortlaut

In den meisten Meldungen wird das neue Bildungskonzept der CDU auf den Abschied der Partei von der Hauptschule verkürzt. Wer am ganzen Bild interessiert ist, der findet hier zum Herunterladen und Nachlesen das Bildungskonzept der CDU in voller Länge. Soeben vom CDU-Vorstand beschlossen; endgültig soll der Parteitag im November darüber entscheiden.

Und hier als Schnellinformation eine Auflistung wichtiger Punkte von der Deutschen Presseagentur (dpa):

Berlin (dpa) – Der CDU-Vorstand hat am Montag einen 31-seitigen
bildungspolitischen Leitantrag mit dem Titel «Bildungsrepublik
Deutschland» für den Bundesparteitag im November beschlossen. Größte
Veränderung ist die Abkehr von der Hauptschule. Weitere Punkte:

SCHULSTRUKTUR: «Derzeit haben wir zu viele Schulformen, die
Eltern, Schüler und Lehrer gleichermaßen verwirren.» (…) «Deshalb
treten wir für eine Reduzierung der Schulformen und die Einführung
des Zwei-Wege-Modells in allen Ländern ein: Gymnasium und Oberschule.
Neben dem Gymnasium ist die Oberschule ein weiterer und
gleichwertiger Bildungsweg, der Hauptschul- und Realschulgang
miteinander verbindet und beide Bildungswege und Abschlüsse
ermöglicht sowie einen Weg entweder in die berufliche Bildung oder
zur allgemeinen Hochschulreife eröffnet. Daneben respektieren wir
integrative Systeme und funktionierende Haupt- und Realschulen vor
Ort, wo dies dem Elternwillen entspricht.»

CHANCENGERECHTIGKEIT: «In einer offenen Gesellschaft bedeutet
Gerechtigkeit, dass Leistung entscheidet und nicht Herkunft, Besitz
oder Beziehungen. Deshalb wollen wir gute Start- und Aufstiegschancen
für alle.» (…) «Zu viele Kinder, die eine Bildungsempfehlung für
das Gymnasium erhalten, nutzen diese Möglichkeit nicht. Oft sind es
Eltern ohne akademische Ausbildung, die aus der Sorge heraus handeln,
ihre Kinder könnten diesen Weg nicht erfolgreich abschließen. Wir
wollen diesen Familien beispielsweise einen Bildungspaten an die
Seite stellen, der den Eltern als Ansprechpartner dient. Bei
Leistungsproblemen erhalten diese Kinder zusätzliche
Nachhilfemöglichkeiten.»

VORSCHULE: «Wir prüfen, das letzte Kindertagesstättenjahr in ein
verpflichtendes Vorschuljahr umzuwandeln, um so eine bessere
Verbindung mit der Grundschule zu ermöglichen.»

BILDUNGSRAT: Die CDU plädiert für die Einrichtung eines
«Bildungsrates». Ähnlich wie der Wissenschaftsrat für Hochschulen und
Forschung soll das neue Gremium Ländern und dem Bund Empfehlungen zur
langfristigen Entwicklung des Bildungssystems geben.

STUDIENGEBÜHREN: Sie hätten sich «als Wettbewerbsinstrument
bewährt. Deshalb soll es in Zukunft in der Entscheidungsmacht einer
Hochschule liegen, Studiengebühren zu erheben.»

 

Bundesbildungsministerin Annette Schavan will einen Bildungsrat schaffen – Interessante Rede zum 125. Geburtstag des Salem-Gründers Kurt Hahn

Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) tritt für die Schaffung eines „Bildungsrats“ ein, eines Expertengremiums, das – analog zum schon bestehenden Wissenschaftsrat – der Politik Ratschläge zur Entwicklung des Bildungswesens erteilt. In einer Rede zum 125. Geburtstag Kurt Hahns, des Mitgründers des Internats Schloss Salem, sagte sie wörtlich: „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die wichtigste Reform in unserem Bildungssystem die curriculare Reform ist. Sie betrifft die Bildungspläne ebenso, wie die Gestaltung überzeugender Lernumgebungen. Sie braucht die Erfahrung von Praktikern ebenso wie wissenschaftliche Expertise. Deshalb halte ich – anlog zum Wissenschaftsrat – die Einrichtung eines Bildungsrates für richtig, der Stellungnahmen und Empfehlungen für die Weiterentwicklung des Bildungssystems zur Verfügung stellt. Im Wissenschaftssystem haben wir hiermit gute Erfahrungen gemacht. Die Stellungnahmen und Empfehlungen des Wissenschaftsrates haben die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems deutlich voran gebracht.“

Im Folgenden sei der ganze – sehr interessante – Festvortrag der Ministerin vom 12. Juni 2011 dokumentiert. Genauer: Das Manuskript des Vortrags; gültig ist selbstverständlich das gesprochene Wort.


Festvortrag der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Prof. Dr. Annette Schavan, zum 125. Geburtstag Kurt Hahns

Vom Staatsbürger zum Weltbürger – das Erbe Kurt Hahns

und die Erziehung für das 21. Jahrhundert

I.

Kurt Hahn verbindet mit Pädagogen zu allen Zeiten das Leiden an der Wirklichkeit. Die Geschichte pädagogischer Ideen ist auch die Geschichte des Leidens an der Gesellschaft, in der Kinder und Jugendliche aufwachsen.

Die Klage über allgemeine pädagogische Verwahrlosung in einer für Erziehung und Bildung unsensiblen Gesellschaft durchzieht die Geschichte der pädagogischen Aufbrüche. Eine neue stringente pädagogische Kultur zu schaffen, gilt als Weg der Erneuerung, zumindest aber als Möglichkeit, die weitere Verwahrlosung auf zu halten.

Kurt Hahn formuliert das 1958 so: „Der Verfall, der die junge Generation in der freien Welt bedroht ist im Fortschreiten, aber er ist aufzuhalten.“1 Er macht die Hast des modernen Lebens verantwortlich für den Niedergang von Werten, Grundhaltungen und öffentlichem Gewissen.

Kurt Hahn verbindet mit vielen Pädagogen, zumal den Vertretern der Reformpädagogik am Beginn des 20. Jahrhunderts, der Optimismus über die Jugend. „Es gibt keinen kostbareren Schatz einer Nation als die Menschenkraft ihrer Jugend.“2

Die schwedische Schriftstellerin und Lehrerin Ellen Key hat mit dem Titel ihres Buches „Das Jahrhundert des Kindes“ die Ouvertüre für die Pädagogik des 20. Jahrhunderts geliefert. Das Buch war ein Welterfolg und erschien 1926 bereits in der 36. Auflage. Das war wohl nur möglich, weil dieser Titel das pädagogische Selbstbewusstsein ihrer Zeit traf.

Die Welt um die Jahrhundertwende war verunsichert. Auf dem Weg in die säkulare Industriegesellschaft lebten die Menschen unter dem Eindruck, die bisher vertraute Gesellschaftsform zu verlassen und in eine neue, bislang unbekannte Lebenswelt einzutreten.

Andreas Flitner beschreibt die pädagogische Hoffnung der damaligen Zeit so: „Mit den Kindern und Jugendlichen lässt sich ein neuer Anfang machen. Eine Veränderung durch Erziehung scheint möglich.“3

Kurt Hahn teilt mit anderen Pädagogen die Skepsis gegenüber dem Staat und der Staatsschule. „Schöpferische Pionierarbeit zu leisten ist dem Staat nicht gegeben.“4 Aus dieser Einschätzung heraus bietet er die Bereitschaft der Landerziehungsheime an, „ihre Hebammendienste zur Verfügung zu stellen, um der revolutionären Reform, die wir fordern, bei ihrer schweren Geburt beizustehen.“5 Die Staatsschule kann nach seinem Verständnis nicht leisten, was notwendig ist, um die Jugend von den von ihm diagnostizierten Einflüssen allgemeiner Verwahrlosung zu schützen. Eltern seien überfordert, weil beruflich zu sehr in Anspruch genommen. Der Staat brauche gute Beispiele, die die Landerziehungsheime sein könnten, um das öffentliche Bildungssystem grundlegend zu verändern.

Kurt Hahn will Pionier sein. Landerziehungsheime sollen „ein kleiner Staat“ sein, in dem Lehrer, Forscher, Erzieher, Handwerker und andere Fachleute arbeiten. Eine kleine Welt in der großen Welt, die die Jugend fordert und fördert, ihre besten Seiten und Potenziale zu entfalten.

Kompromisse waren ihm fremd. Sein Modell der Schule lebte von der Geschlossenheit und strikten Unterscheidung von der sie umgebenden Gesellschaft. Einflüsse waren unerwünscht, Mit-Erzieher ebenso und vermutlich war dann doch auch das Landerziehungsheim überschätzt.

Kurt Hahn hat viel geleistet. Er gehört zu den pädagogischen Pionieren des 20. Jahrhunderts. Es war dann aber für ihn schwer zu verkraften, dass die eigenen pädagogischen Ideen an Grenzen stoßen.

Die Aufbruchsstimmung am Beginn des 20. Jahrhunderts, die mit Erziehung und Bildung verbunden war, fand eine jähe Zäsur nach den beiden Weltkriegen und dem damit verbundenen Zusammenbruch der Gesellschaft und ihrer Bildungsideale. Pädagogisches Denken geriet in eine tiefe Krise. Bildung schien ein Relikt vergangener Tage gewesen zu sein. Bereits Mitte der 1960er Jahre begann in Westdeutschland eine grundsätzliche Kritik am Bildungsdenken, verbunden mit dem Vorwurf, dahinter stehe im Anschluss an Wilhelm von Humboldt ein idealistisches Konzept. Hermann Giesecke schreibt in seiner „Einführung in die Pädagogik“: „Der ursprüngliche Bildungsbegriff (kann) in seiner damals umfassenden Bedeutung heute nicht mehr zur Zielvorstellung des pädagogischen Handels und Denkens gemacht werden. Dafür haben sich die Lebensverhältnisse zu sehr verändert.“6 In der Bildungsdiskussion Ende der 1960er Jahre wurden andere Begriffe eingeführt, vor allem der Begriff „Lernen“, der ein Oberbegriff aller pädagogischen Bemühungen sein sollte. Die Pädagogisierung der Bildung war perfekt. Empirische Lernforschung und Lernpsychologie sollten helfen, Klarheit im Konkreten zu schaffen. Ziel waren Prozesse der Sozialisierung junger Menschen, nicht mehr Bildung – ein Begriff, der unter Ideologieverdacht stand.

Hinsichtlich der Erziehung war die Verunsicherung nicht minder tiefgreifend. Erfahrungen von Machtmissbrauch, die im damaligen Generationenkonflikt thematisiert wurden, ließen Erziehung eher als einen Akt der Fremdbestimmung erscheinen.

Die Stimmung im pädagogischen Milieu sank auf einen Tiefpunkt. Wilhelm Flitner schrieb 1979 einen Aufsatz mit der rhetorischen Titelfrage: „Ist Erziehung erlaubt?“7 Er legt dar, dass erzieherische Hilfe den Heranwachsenden gegenüber unentbehrlich sei und die Spannung zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung im pädagogischen Raum durch die Wahl der rechten Methode gelöst werden müsse.

Die beschriebene Auseinandersetzung in der wissenschaftlichen Pädagogik, die sich seit her als Erziehungswissenschaft bezeichnet, ist nicht ohne Rückwirkung auf das Selbstverständnis der Bildungspolitik geblieben. In dieser Zeit war Wilhelm Hahn Kultus- und Wissenschaftsminister in Baden-Württemberg. Er fand Anerkennung als großer Reformer und hielt 1974 in seinem Tagebuch fest, dass „die Bildungsreform durch ihre Verzerrung ins technokratische und ideologische ihren Kulminationspunkt überschritten“ habe. Er, der mit seiner Person für eine kraftvolle Gestaltung der bisherigen Reformepoche im Bildungswesen stand, befürchtete nun, dass Pädagogik zu sehr von technokratischen Konzepten und „planerischen Idealentwürfen auf dem Reißbrett bestimmt und zu wenig am Kind orientiert sei. Sein persönliches Anliegen zu einer am Kind orientierten Pädagogik beschrieb er mit dem Brecht-Zitat: „Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft.“8

Manche erinnern sich daran, dass er danach eine bundesweite Initiative „Mut zur Erziehung“ startete. Wer diese Zeit gut kennt, erinnert sich auch daran, dass Wilhelm Hahn damit in große Auseinandersetzungen geriet.

Die bildungspolitischen Debatten in den folgenden Jahrzehnten waren von heftigen Auseinandersetzungen über Schulstrukturen geprägt, immer waren es auch Finanzdebatten angesichts zunehmender Schülerzahlen, selten solche über Bildungsinhalte und Bildungsziele.

II.

Wie ein Paukenschlag wirkt im Jahr 2001 die öffentliche Präsentation der ersten Pisa-Studie. Ich war damals Präsidentin der Kultusministerkonferenz und erinnere mich noch gut an die große Aufregung, die die Ergebnisse dieser Studie auslöste. Im internationalen Vergleich waren die Schulen in Deutschland längst nicht so gut, wie allgemein angenommen. Die Skepsis gegenüber den Begriffen Bildung und Erziehung waren zwar überwunden, jetzt aber trat an die Stelle eine neue Skepsis gegenüber dem öffentlichen Bildungssystem. Hans Maier berichtet in seiner Autobiografie „Gute Jahr. Böse Jahre“, dass er bereits in den 70er Jahren von Bernd Vogel als junger Kultusminister in seiner ersten Sitzung der Kultusministerkonferenz begrüßt wurde mit dem Satz: „Willkommen im Klub der Prügelknaben der Nation.“ Der Ruf der Kultusminister war nie gut. Immer wurden sie verantwortlich gemacht für Defizite im öffentlichen Bildungssystem. Das war jetzt nicht anders. Mancher Kultusminister geriet massiv unter Druck. Die Kultusministerkonferenz bemühte sich um einen umfassenden Plan zur Stärkung der Leistungsfähigkeit des Bildungssystems. Die im Jahre 2009 vorgelegte Pisa-Studie zeigte deutliche Verbesserungen. Kritik am Bildungssystem, an mangelnder Bildungsgerechtigkeit, am Föderalismus, an einer unzureichenden Finanzierung des Bildungssystems aber hält an. Es ist den Ländern nach der Föderalismusreform nicht gelungen, wirklich gesamtstaatliche Verantwortung wahrzunehmen. Die Unterscheide zwischen den Ländern sind eher größer geworden. Das gilt vor allem für die Organisation des Bildungssystems und der Lehrerbildung, aber auch im Vergleich der Lernniveaus angesichts vereinbarter Bildungsstandards für alle Länder.

Das erste Jahrzehnt im 21. Jahrhundert ist in der Bildungspolitik in Deutschland ein Jahrzehnt umfassender Schulreformen gewesen. Aber anders als vor 100 Jahren fehlt der Optimismus im Blick auf die Wirkungen von Erziehung. Wer würde schon heute angesichts von wiederum tiefgreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen sagen: „Eine Veränderung der Welt durch Erziehung scheint möglich.“

Wenn wir vom Erbe Kurt Hahns sprechen, dann ähnelt die Stimmung wohl eher seiner damaligen Einschätzung, dass es nicht gelingt, der Jugend die pädagogische Begleitung zu geben, die notwendig ist, damit sie ihre Persönlichkeit entwickeln und ihre Fähigkeiten entfalten kann. Die Stimmung ist am ehesten geprägt von schlechtem Gewissen und manchmal auch von dem Eindruck, dass Bildungspolitik sich verzettelt.

Hat das möglicherweise auch damit zu tun, dass in allem Reformeifer so wenig über die Inhalte von Bildung und die Ziele von Erziehung gesprochen wird?

Sind unsere Bildungspläne auf der Höhe der Zeit?

Ist die Art, wie wir lehren und lernen im 21. Jahrhundert angekommen?

Haben wir schon realisiert, dass die Jugend von heute junge Europäer sind, deren Bildungshorizont über nationale Grenzen hinaus reichen sollte?

Vor den Antworten auf solche und andere Fragen steht die kulturtheoretisch wie bildungstheoretisch unterschätzte Bedeutung des Generationenverhältnisses. Bildung und Erziehung sind Ausdruck des Interesses der Generationen aneinander. Friedrich Schleiermacher spricht darüber in seinen Vorlesungen aus dem Jahre 1826: „Ein großer Teil der Tätigkeit der älteren Generation erstreckt sich auf die jüngere, sie ist umso unvollkommener je weniger bewusst wird, was man tut und warum man es tut. Es muss also eine Theorie geben, die von dem Verhältnis der älteren Generationen zur jüngeren ausgehend sich die Frage stellt: Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zweck, wie das Resultat der Tätigkeit entsprechen? Auf dieser Grundlage des Verhältnisses der älteren zur jüngeren Generation, was der einen in Beziehung zur anderen obliegt, bauen wir alles, was in das Gebiet dieser Theorie fällt.“9 Als Ausgangspunkt pädagogischer Praxis und Reflektion steht für Schleiermacher das ernsthafte Interesse der Generationen an einander, der Wille, mit einander zu ringen und sich zu verständigen. Bildung und Erziehung sind Teil eines geistigen Generationenvertrages, der der jeweils nächsten Generation Kultur erschließt.

Wo das ernst genommen wird, kann über Bildung und Erziehung nicht allein im Kontext von Institutionen gesprochen werden. Das gilt einmal mehr in der Welt des 21. Jahrhunderts, in der die Informationsquelle und Kommunikationsplattform schlechthin das digitale Netz ist, auf das manche Kinder bereits Zugriff vor dem ersten Schultag haben.

Interesse der Generationen an einander gewinnt zusätzlich an Bedeutung für Bildung und Erziehung angesichts der Erkenntnisse der Hirnforscher, wonach Bindungsfähigkeit eine Voraussetzung für die Bildungsfähigkeit ist. Vor jeder Schulreform steht also die Erwartung an die Erwachsenengeneration, sich darüber zu vergewissern, welches die Inhalte und Ziele von Erziehung und Bildung sind, die Kultur erschließen und vermeiden, dass sich eine junge Generation wie Fremdlinge in der eigenen Kultur bewegen. Auch die raschere Abfolge von Generationen ändert daran nichts. Und entlässt die ältere Generation nicht aus der Pflicht, Verbindliches zu vermitteln gerade dann, wenn die vorherrschende Zeitsignatur die sich beschleunigende Veränderung ist. Erziehung gewinnt gerade dann immer mehr an Bedeutung Verbindlichkeit an die Stelle von Beliebigkeit zu setzen – Verbindlichkeit der Beziehungen und Werte. So entstehen Vertrauen und Verlässlichkeit als Grundelemente im pädagogischen Milieu.

Erziehung und Bildung im 21. Jahrhundert sollte sich also nicht zuvorderst mit der Schaffung pädagogischer Sonderwelten beschäftigen, die sich durch eine möglichst strikte Trennung von den übrigen Lebenswelten definieren. Die Angst von äußeren Einflüssen und Mit-Erziehern ist müßig. Sie sind immer präsent. Sie sind Teil der Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen. Wenn wir über Bildung und Erziehung sprechen, dann meinen wir auch am Beginn des 21. Jahrhunderts die Wege, in denen Menschen nicht hinter ihren Möglichkeiten bleiben. In der Tradition ist viel von Persönlichkeitsbildung die Rede. Sie hat nichts an Aktualität verloren. Kurt Hahn hat 1930 „the seven laws of Salem“ veröffentlicht. Das sind die Prinzipien, die er als unverzichtbare Voraussetzung für erfolgreiche Erziehung und Bildung ansah. Sie lauten:

Gebt den Kindern Gelegenheit, sich selbst zu entdecken.

Lasst den Kindern Triumpf und Niederlage erleben.

Gebt den Kindern Gelegenheit zur Selbsthingabe an die gemeinsame Sache.

Sorgt für Zeiten der Stille.

Übt die Fantasie.

Lasst Spiele eine wichtige, aber keine vorherrschende Rolle spielen.

Erlöst die Söhne reicher und mächtiger Eltern von einem entnervenden Gefühl der Privilegiertheit. 10

So oder vergleichbar formuliert finden wir pädagogische Imperative auch in anderen pädagogischen Konzepten. Sie sind zeitlos. Sie erinnern daran, dass vor aller Wissensvermittlung und aller Denkschulen die Entfaltung eigener Kräfte und Grundhaltungen steht.

Heute kommen Erkenntnise der Entwicklungsneurobiologie, der Entwicklungspsychologie und der Verhaltensphysiologie hinzu. Sie gehören in jede Lehrerbildung. Sie liefern wichtige Erkenntnisse darüber, wie wir lernen und wie Lernumgebungen zu gestalten sind. Sie erklären die Rolle von Persönlichkeit und Motivation beim Lehren und Lernen. Sie haben bislang kaum Eingang in unser Bildungssystem gefunden. Sie zeigen auf, dass gelingendes Lehren und Lernen nicht allein eine Frage der Didaktik- und Methodenvielfalt ist, vielmehr frühkindliche Einflüsse, Bindungsverhalten, ein anderer Umgang mit der Zeit, Emotionen, Aufmerksamkeit, Gedächtnisbildung und Sprachvermögen prägenden Einfluss auf Lernmotivation und Intelligenzentwicklung ausüben.

Teil der Lehrerbildung sind solche Erkenntnisse wohl kaum. Deshalb gehört zu den vorrangigen Reformen im Bildungssystem die Lehrerbildung. Sie ist nicht auf der Höhe der Zeit. Sie lehrt zu wenig darüber, wie wir lernen. Ob unsere Bildungspläne auf der Höhe der Zeit sind, vermag ich schwer zu sagen. Es gibt so viele davon in Deutschland. Die Kultusministerkonferenz hat vor vielen Jahren gemeinsame Bildungsstandards vereinbart und damit einen kompetenzorientierten Ansatz verbunden. Es ist schwerlich herauszufinden, ob diese Vereinbarung in allen 16 Ländern in neue Bildungspläne umgesetzt wurde. Wer – wie ich – einmal die Erfahrung gemacht hat, neue Bildungspläne erarbeiten zu lassen, der weiß um den Kampf, der dann geführt wird. Alle reden von Kompetenzen, ringen aber um jede bisherige Lernsequenz, um Themen und Namen und vor allem um den Anteil des eigenen Faches am Ganzen des Bildungsplans. Die Schule der Zukunft braucht ein Bildungskonzept, dass auf Konzentration setzt, auf die Verbindlichkeit eines Kerncurriculums und die Möglichkeit der selbstständigen Profilbildung. Ein modernes Bildungssystem braucht Vergleichbarkeit, nicht die Uniformität schulischer Curricula. Schule braucht Selbstständigkeit.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die wichtigste Reform in unserem Bildungssystem die curriculare Reform ist. Sie betrifft die Bildungspläne ebenso, wie die Gestaltung überzeugender Lernumgebungen. Sie braucht die Erfahrung von Praktikern ebenso wie wissenschaftliche Expertise. Deshalb halte ich – anlog zum Wissenschaftsrat – die Einrichtung eines Bildungsrates für richtig, der Stellungnahmen und Empfehlungen für die Weiterentwicklung des Bildungssystems zur Verfügung stellt. Im Wissenschaftssystem haben wir hiermit gute Erfahrungen gemacht. Die Stellungnahmen und Empfehlungen des Wissenschaftsrates haben die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems deutlich voran gebracht.

Schließlich greife ich noch einmal die Frage nach der europäischen Bildung auf. Wir sprechen vom europäischen Bildungsraum und vom europäischen Hochschulraum. In den 27 Mitgliedsländern soll Mobilität möglich werden. Es setzt voraus, im Bereich der Hochschulen Studienleistungen und Studienabschlüsse wechselseitig anzuerkennen. Im europäischen Bildungsraum existieren Mobilitätsprogramme, die Auslandserfahrungen fördern. Wie aber steht es um die Ausrichtung nationaler Bildungspläne auf ein Grundverständnis von europäischer Bildung? Welche Rolle spielen europäische Literatur, europäische Geschichte und europäische Kultur in unseren Bildungsplänen? Jede Forderung nach einem entsprechenden Bildungskanon stößt bislang an Grenzen. Dennoch lohnt sich der Versuch. Ein in den Schulen aller Mitgliedsländer zugelassenes Buch zur europäischen Kulturgeschichte, zur europäischen Literatur, zur politischen Bildung – das wäre ein guter Impuls. Bildung und Erziehung im 21. Jahrhundert braucht einen europäischen Bildungskontext.

Dazu gehört auch die Frage, wie in den Mitgliedsländern Bildungspolitik mit dem Thema Sprachenlernen umgeht. Manche erinnern sich vermutlich noch an die heftigen Debatten, die wir in Baden-Württemberg geführt haben, als es um die Einführung von Französisch in den Grundschulen am Oberrhein ging. Analog dazu stellt sich die Frage in Brandenburg und Sachsen nach der polnischen Sprache. Das ist zugegebenermaßen ein anspruchsvolles Programm. Beim frühen Fremdsprachenlernen gehen die Meinungen in Deutschland nach wie vor auseinander. In Baden-Württemberg ist die Fremdsprache ab Klasse 1 eingeführt. Ein Expertenrat hat dies jüngst wieder infrage gestellt, weil mit Blick auf viele Kinder mit Migrationshintergrund das Erlernen der deutschen Sprache als der Schulsprache Vorrang haben müsse. Befürworter des frühen Fremdsprachenlernens, zu denen ich gehöre, argumentieren damit, dass diese Fremdsprache das einzige Schulfach sein, in dem alle eine gleiche Ausgangslage haben. Solche Fragen können Gegenstand der Expertise eines Bildungsrates sein und der Bildungspolitik helfen, zu richtigen Entscheidungen zu kommen.

Kinder und Jugendliche stehen im Mittelpunkt von Bildung und Erziehung. Sie sollen ihre Talente entfalten und ihre Persönlichkeit entwickeln können. Diese Erwartungen an Bildungs- und Erziehungsprozesse haben Vorrang vor allem anderen. In Zeiten der raschen Wissensvermehrung und einer wachsenden Informationsflut gewinnt die Auswahl geeigneter Bildungsinhalte in unseren Schulen an Bedeutung. Schule braucht Konzentration. Schule muss sich gegen Verzettelung wehren, zumal die Versuchung besteht, ständig neue Erziehungs- und Bildungsaufträge an die Schule zu geben, mit denen der Eindruck erweckt wird, als sei dies der einzig relevante Lernort. Lernen aber ist längst nicht auf Schule beschränkt. Bildung beginnt nicht in der Schule und weist über die Schule hinaus. Deshalb muss Schule das leisten, was sie kann und letztlich besser zu leisten vermag, als andere Lebensbereiche. Sie muss ein Fundament schaffen, dass Lernen auch jenseits der Institutionen befördert. Sie soll Neugierde erhalten und den Schwung des Lernens befördern. Kurt Hahn hat bemängelt, dass manche Lehrer nicht wahrnehmen, wenn der Schwung zum Lernen nachlässt und Kinder damit hinter ihren Möglichkeiten bleiben. Er stellt hohe Anforderungen an die pädagogische Arbeit. Es legt nahe, sich darum zu bemühen, dass die Besten eines Jahrgangs diesen wichtigen, schwierigen und zugleich schönen Beruf wählen. Wo dies gelingt, hat Bildungspolitik bereits viel erreicht. Vor allem ist damit ein sichtbarer Hinweis dafür gegeben, dass Bildung und Erziehung ernst genommen und anerkannt wird.

Bildung und Erziehung in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts zu stärken, sie als Ausdruck des geistigen Generationenvertrages zu begreifen und unsere nationalen Bildungssysteme in einem europäischen Bildungskontext zu gestalten gehört zu den vornehmsten Aufgaben moderner Gesellschaften.

1 Kurt Hahn: Erziehung zur Verantwortung. Reden und Aufsätze VII: Erziehung zur Verantwortung. S. 70 – 81. Stuttgart 1958. S. 81

2 Kurt Hahn: Die nationale und internationale Aufgabe der Erziehung. Vortrag am 22. April 1958 vor dem Industrieklub Düsseldorf. SV-Schriftenreihe zur Förderung der Wissenschaft. 1958/5

3 Andreas Flitner: Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts. Erweiterte Neuausgabe. München 1999. S. 24.

4 Kurt Hahn: Reform der Erziehung ebenda S. 81

5 Ebenda

6 Hermann Giesecke: Einführung in die Pädagogik. Frankfurt 1070. S. 90

7 In Zeitschrift für Pädagogik 25, 1979. S. 499-504

8

9 Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen aus dem Jahr 1826. In: Drs. Pädagogische Schriften. Herausgegeben von Erich Weniger und Theodor Schultze. Düsseldorf/München 1957. S. 9

10 Kurt Hahn: Reform mit Augenmaß. Ausgewählte Schriften einen Politikers und Pädagogen. Stuttgart 19… S. 151-153