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Claire, die Taxifahrerin, kennt den Weg nicht

 

Die Engländer, jaja, die haben Humor. Was dieser Russell Square denn sei, eine Straße, ein Platz, ein Gebäude, oder was?, fragte Claire, als ich zu ihr ins Auto steige. Der war echt gut, Claire ist schließlich offizielle Olympia-Chauffeurin, fährt den ganzen Tag Leute durch die Stadt und diesen Russell Square findet jeder Londoner mit verbundenen Augen. Nur Claire nicht, sie hatte keine Ahnung.

Claire ist nett, aber kennt den Weg nicht. Damit ist die freundliche Mittvierzigerin ein typischer Vertreter der 70.000 freiwilligen Helfer dieser Spiele. 250.000 hatten sich beworben, wahrscheinlich ging es nach Freundlichkeit. Die Volunteers lächeln immer und überall. Sie würden wahrscheinlich auch noch lächeln, wenn man ihnen sagen würde, ihre lilafarbenen Volunteer-Shirts seien hässlich (was stimmt) und alle Olympiasieger sowieso gedopt (was hoffentlich nicht stimmt).

Mit der mangelnden Freiwilligen-Kompetenz hat niemand so recht ein Problem. Die Freiwilligen nicht, was sollen sie auch machen? Die Besucher auch nicht, sie werden einfach zum nächsten Freiwilligen geschickt, der, egal wo man sich in dieser Stadt befindet, nie weiter als fünfzig Meter entfernt zu sein scheint. So geht das fröhlich weiter und nach dem Prinzip der Schwarmintelligenz gibt es dann irgendwann doch die Auskunft, die man braucht.

Mittlerweile hat Claire mit meiner Hilfe das Navigationsgerät des Sponsorenwagens, auf dem fesche London-2012-Sticker kleben, bedienen können. Jetzt muss sie nur noch in ihr Funkgerät sprechen und hoffen, dass das Funkgerät zurückspricht und ihr das Okay zur Abfahrt gibt. So etwas kann dauern. „I apologize„, sagt sie, Entschuldigung, das sei erst das zweite Mal, dass sie jemanden fahre.

Dann erfolgte die Startfreigabe, Claire fährt vorsichtig los, die Hände einen Tick zu verkrampft am Lenkrad haltend. Ich versuche, sie abzulenken und stelle Fragen. Claire erzählt, dass sie an insgesamt zehn Tagen dieser Spiele „volunteeren“ dürfe. Am Anfang sollte sie die Autos für die Prominenten fahren. Es stellte sich aber heraus, dass es wesentlich mehr Prominentenfahrer gab als Prominente, weil ja bekanntlich selbst David Cameron neulich mit der U-Bahn zum Olympischen Park fuhr.

Also ließ Claire sich herabstufen und fährt jetzt Journalisten, was gemeiner klingt, als es klingen sollte. Sie kann jetzt etwas entspannter reden, die ersten Kilometer liefen gut. Wenn sie nur nicht auf der falschen Seite fahren würde. Kleiner Scherz meinerseits, der Claire für ein paar Sekunden aus der Fassung bringt.

Vor allem seit der große rote Journalistenbus vor uns fährt, der den gleichen Weg hat, wird Claire ruhiger. Sie braucht nur noch im Windschatten bleiben. Ja, sie habe auch ein nichtolympisches Leben: Lehrerin für Kinder, die nicht zur Schule gehen. Als sie in mein irritiertes Gesicht blickt, erklärt sie, dass sie Jugendliche, die in der Schule gemobbt werden, über das Internet unterrichte.

„Ich möchte Teil dieser Spiele sein“, sagt sie. Und dass die Londoner die Spiele spätestens mit der Eröffnungsfeier lieben gelernt haben. Alles sei ja so „exciting„. Vor allem, dass sie selbst jetzt auf dieser olympischen Spur fahren dürfe, die nur Athleten, Offiziellen, Journalisten und eben Claire vorbehalten sei, mache sie stolz. Den Journalistenbus vor ihr zu überholen, traut sie sich aber doch nicht.

Nach vierzig Minuten haben wir unser Ziel erreicht, Russell Square. „Es ist nett hier“, sagt Claire. Sie müsse jetzt nur noch zurückfahren, sagt sie, dann habe sie Feierabend und fahre nach Hause, anderthalb Stunden dauert das. Mit diesem Auto hier, frage ich? „Nein nein, ich nehme den Zug.“