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Hier noch nicht fertig, dort schon verfallen

 

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Unsere Olympia-Reporter Steffen Dobbert und Christof Siemes erzählen im Video von Sonnenschein und Baustellen, von ihren ersten Eindrücken in Sotschi also.

In diesem Blog werden die beiden über ihre Erlebnisse in Sotschi berichten. Über Kurioses, Wunderliches und Erzählenswertes abseits des Olympia-Stroms. Ab und zu werden sie auch über ihre Arbeit schreiben. Zusätzlich schreiben sie Texte für DIE ZEIT und ZEIT ONLINE, twittern hier und üben ihr Russisch. Wir freuen uns über Ideen, Anregungen, Fragen und Kritik. Den ersten Text für dieses Blog schrieb Christof Siemes kurz nach seiner Ankunft:

Ein großer Freund dieser Spiele in Sotschi war ich nie. Aber nun, da ich sie live erlebe, bin ich ernsthaft erschüttert. Natürlich kann man es blöd finden, wenn zwei Tage, bevor die Spiele von Sotschi überhaupt losgehen, gut situierte Journalisten rumnörgeln, in ihrem Hotelzimmer liege noch Bauschutt auf dem Bett. Aber inzwischen geht es nicht mehr nur um kleine Macken.

In meinem Zimmer dünsten Farbe und Teppichkleber noch derart giftig-frisch, dass mir Hals und Augen brennen. Die Zusicherung, es würde Internetzugang in jedem Zimmer geben, glauben wir schon lange nicht mehr. Und fragen Sie mal den Kollegen vom Tagesspiegel, wie der es fand, mehr als eine halbe Stunde in einem wackligen Aufzug steckenzubleiben, ohne dass irgendjemand auf seine Hilferufe über den Notfallknopf reagiert hätte. Am Ende musste einer der wenigen freiwilligen Helfer, der überhaupt die Telefonnummer des aus dem Boden gestampften Hauses kannte, aus Sotschi die Rezeption oben in den Bergen anrufen und sagen: Gorki Panorama, Sie haben ein Problem. Die Treppe ist übrigens auch keine Lösung: Die ist allein den Bauarbeitern vorbehalten.

Es hatte eben doch seinen Grund, warum bei unserer Ankunft der Eingang zu dem Komplex noch mit rot-weißem Trassierband abgesperrt war. Das Haus ist einfach nicht fertig – und das wird es in den nächsten drei Wochen bis zum Ende dieser Spiele auch nicht mehr. Und das ist kein Einzelfall. An den verschiedensten Schauplätzen wird zwar noch fleißig gewerkelt und gefegt, verzweifelt versuchen zahllose Bauarbeiter, den Putz, der nie dran war oder schon wieder abblättert, irgendwie noch zu flicken. Aber das ganze Tal vom Meer hinauf in die Bergregion von Krasnaja Poljana sieht immer noch aus wie eine gigantische Baustelle. Das Flussbett der Mzymta sieht nach sieben Jahren Brachialbehandlung aus wie ein Panzerübungsplatz. Verschämt versuchen die Verantwortlichen, die größten Brachen und Dreckslöcher hinter Sichtblenden zu verstecken. Aber die neue Straße und die Eisenbahnlinie liegen auf ihren gewaltigen Stelzen so hoch, dass wir auf unserer Berg- und Talfahrt zwischen den Wettkampfstätten freie Sicht auf jede Sauerei haben, die hier begangen wurde und in Jahren nicht verheilen wird.

Und so summieren sich die Einzelbeobachtungen zu einem ernüchternden Befund: Das ganze Projekt ist derart überdimensioniert, dass es selbst mit all dem Geld, dass Wladimir Putin hineinpumpen ließ, nicht rechtzeitig fertig werden konnte – und vielleicht nie wirklich fertig wird. Bürgersteige enden im Nichts, neu gepflanzte Bäumchen werden mit Stricken mühsam aufrecht gehalten, und wo man die mitunter achtspurige Schnellstraße, die nun das Tal durchschneidet, als Fußgänger gefahrlos überqueren soll, weiß keiner so genau.

Besonders gespenstisch mutet es an, dass manche Bauten, seien es nun Häuser oder Straßen und Wege, am einen Ende bereits zu verfallen scheinen, obwohl sie am anderen noch nicht mal fertig sind. Wie dieser Brutalismus aus der Retorte mit seiner billig gebauten Angeberarchitektur jemals den gewachsenen Skigebieten in den Alpen Konkurrenz machen soll (denn das war ja ein Ziel der Super-Investitionen), weiß der Nachfahr des Zaren allein.

Es stimmt ja, dass auch bei der Zurichtung der Gebirge Mitteleuropas zu alpinen Vergnügungsparks vieles schief gelaufen ist. Aber soviel Pfusch in so kurzer Zeit – das hat man nicht mal in den französischen Mega-Skigebieten fertiggebracht. Natürlich sollen nicht immer unsere westlichen Standards für den Rest der Welt das Maß aller Dinge sein. Aber die Veranstalter haben es auf diesen Wettstreit angelegt. Und kann man nicht mal die Hoffnung haben, dass irgendjemand aus unseren früheren Fehlern lernt? Oder von den obersten Olympiern in seinem Tatendrang etwas gebremst wird?

Selbst der Chef deutschen Delegation, der Ex-Grüne Michael Vesper, der sich zum staatstragenden Allesgutfinder gewandelt hat, musste angesichts der rücksichtslosen Umsetzung einer Profilneurose schwer schlucken. Für seine Verhältnisse erstaunlich unverschlüsselt sprach er auf einer Pressekonferenz im Deutschen Haus von seiner Hoffnung, das IOC möge angesichts dieser Zustände seine Vergabepraxis ändern.

Wie diese Spiele eine, ihre Seele finden wollen, bleibt angesichts der Megatonnen Beton, all der Containerdörfer und Gewerbegebietsästhetik ein Rätsel. Am Ende, so viel ist jetzt schon sicher, werden alle wieder mit leuchtenden Augen von Lillehammer sprechen, dem norwegischen Dorf, in dem 1994 die stimmungsvollsten Winterspiele aller Zeiten stattfanden.