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Die Mörder sind unter uns

 

Das Vergangene ist für die meisten ehemaligen SS- und Wehrmachtsangehörigen längst vergangen. Für ihre Opfer in Italien ist sie gegenwärtig. „Auch 60 Jahre nach den Massakern können die Hinterbliebenen wegen der schweren Traumatisierung kein normales Leben führen“ hebt Ralf Klein hervor, Sprecher der Kampagne „Keine Ruhe für NS-Kriegsverbrecher“. Am Samstag protestierten sie in neun deutschen Städten und einem österreichischen Ort.

Mit dem Aktionstag wollte die Kampagne auf die schleppenden Ermittlungen gegen die hochbetagten in Italien verurteilten Täter hinweisen. Denn für die Angehörigen, so Klein, sei es unerträglich, dass in Deutschland und Österreich die Ermordung ihrer Eltern, Geschwister oder Kinder noch immer nicht zur Anklage gebracht wurde. In Norddeutschland protestierten sie in Bremen und Hamburg wegen der ausbleibenden Anklagen.

Nicht weit von der Weser kamen an die 100 Demonstranten im Steintorviertel vor dem Haus des pensionierten Polizisten Max Josef M. zusammen. Flugblätter wurden verteilt, Erklärungen verlesen. „Max M. wurde vor einem Jahr in Italien in Abwesenheit wegen Mordes an 59 Menschen verurteilt“, berichtet eine Sprecherin. Mancher Passant fragt nach. Eine Radfahrerin, beobachtete die taz, zeigte den Gegendemonstranten einen ausgestreckten Mittelfinger.

Auch in der Hansestadt an der Elbe sind die Reaktionen unterschiedlich. Nur wenige Fußminuten von der CURA Seniorenwohnanlage, in der S. lebt, verteilten etwa 30 Demonstranten Flugblätter. Einige Passanten hören in der Fußgängerzone den Redebeiträgen zu, in denen daran erinnert wurde, dass S. wegen Mordes an 569 Zivilisten verurteilt wurde. „Ach, wir leben jetzt in 2007“ schimpfte ein Herr, ein weiterer meinte: „man muss das mal ruhen lassen“. Andere Einkäufer sind entsetzt, das in ihrer „geliebten Toskana“ Deutsche Massaker verübt wurden „Und der Eine lebt hier? Unbehelligt? Schlimm.“, fragten sie nach.

Toskana 1944: Die deutschen Einheiten sind auf dem Rückzug. Der einstige Bündnispartner Italien ist zum Feind geworden. In den frühen Morgenstunden des 29. Juni stürmen hunderte Soldaten der Fallschirm-Panzerdivision 1. „Herman Göring“ das Dorf Civitella. Die Bauernhäuser werden angezündet, ihre Bewohner auf dem Kirchplatz zusammengetrieben. 230 Männer, Frauen und Kinder ermordet die Wehrmachtseinheit der M. angehört. Knapp zwei Monate später, am 12. August, fällt die 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ in Sant‘ Anna di Stazzema ein. Die 4. Kompanie führ S. an. Binnen vier Stunden hat die SS 440 Männer und Frauen sowie 120 Kinder erschlagen, erschossen oder verbrannt. „Da hat’s geheißen: ,Umlegen‘ den ganzen Verein!'“, berichtete ein früherer SS-Unterscharführer 2002 einem ARD-Reporter. Und: „Det ist wie bei der Jagd, bei der Treibjagd“. Zurückhaltende Schätzungen befürchten, dass die deutschen Einheiten vor allem in der Toskana etwa 10.000 italienische Zivilisten ermordeten.

„In Sant‘ Anna fand eines der schlimmsten Massaker an Zivilisten in Italien statt“, sagt Marco De Paolis Staatsanwalt in La Spezia. Vor dem dortigen Militärtribunal wurde S. mit weiteren neun SS-Angehörigen am 22. Juni 2005 zu lebenslanger Haft verurteilt. Vor dem Kassationshof in Rom scheiterte am 6. November diesen Jahres seine Revision. M. hat ebenfalls Berufung gegen den Schuldspruch des Militärtribunals am 10. Oktober 2006 eingelegt. Vorläufiges Urteil: Lebenslange Haftstrafe. In einem Fernsehinterview versicherte er „keinen einzige Menschen erschossen zu haben.“ Eine Historikerin der Kampagne meint aber zur taz: „Zu dem Zeitpunkt des Massakers war er Kommandant einer Untereinheit der Feldgendarmerie. Dass er in dieser Position, während seine Kameraden ein Massaker veranstalten, einen einzelnen Gefangenen bewacht haben soll, halten wir zumindest für unwahrscheinlich.“

Seit 2002 ermittelt die Staatsanwaltschaft Dortmund gegen M., bei dem sie 2006 eine Wohnungsdurchsuchung durchführten. Ebenfalls vor fünf Jahren begann die Staatsanwaltschaft Stuttgart mit den Ermittlungen gegen S. und 15 weiteren Verdächtigen. „Kein neuer Stand“, erklärt eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft mal wieder. „Wir müssen dem Einzelnen die Tatmerkmale Mord nachweisen – objektiv und subjektiv“, betont die Sprecherin. Den Mangel an konkreter Tatbeteiligung hätten die Aussagen vor dem Tribunal widerlegt, hält Enio Mancini vom „Verein der Opfer von St’Anna“ dagegen. „Nicht Rache, aber Gerechtigkeit“, will Mancini, der als einer der wenigen das Massaker überlebte. Für den Verein tritt die Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke als Nebenklägerin auf. Nachdem sie die Ermittlungsakten einsehen konnte, glaubt sie, dass gegen S. längst das Verfahren eröffnet werden kann.

Er selbst betont ein „absolut reines Gewissen zu haben“. Die Meinungen zu ihm gehen in der noblen Seniorenanlage auseinander. Einige der 90 Bewohner wollen „nichts von ‚der Geschichte‘ wissen“. Der Leiter der Anlage berichtet, manche „gehen mit ihm ganz normal um“, andere meiden ihn. Im Heimbeirat wäre auch wieder über S. geredet worden. Eine neue Vertragsrechtslage, sagt er, trete für sie aber erst mit einer Verurteilung in Deutschland ein.

In Italien sind bereits die ersten Auslieferungsanträge für jene erstellt dessen Revision bereits scheiterten. Eine Auslieferung ist nach deutschem Recht aber nur mit Einwilligung des Betroffenen möglich.