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Das immerzu verspätete Bewusstsein der Stadt Weimar

 

Seit zwei Jahren lebe ich in dieser Stadt, auch wenn ich gerade meinen Urlaub von ihr mache. Es ist eine starke Hassliebe.

Der Ettersberg war der Lieblingsberg von Goethe. Einige Empfänge von Anna Amalia fanden in einem kleinen Nebenschloss statt, dass sich dort befand. Später baute auch Franz Liszt dort ein Jagdschloss auf.

Und noch später bauten dort die NationalsozialistInnen ein Konzentrationslager auf. In der Nähe dieser historischen Gedenkstätten, denn die Umgebung sollte doch ansprechend sein. Es starben an die 50.000 Männer (es war ein reines Männerlager) in der Zeit des Nationalsozialimus und nochmal ein paar tausend in den fünf Jahren danach, als es ein sowjetisches Gefangenlager war.

Am Tage der Befreiung durch die us-amerikanische Armee, wurden 1000 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger der Stadt Weimar nach oben in das Lager geführt. Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus, wie ein Film aus den 90er Jahren zeigt. Dort gibt es einerseits die Leute, die ganz offen sagen: „Wer sagt, er oder sie hätte nichts gewusst, lügt. Natürlich haben wir die Leute gesehen. Natürlich haben wir gewusst, was da oben ist. Die sind ja hier am Hauptbahnhof angekommen!“ und andere, die heute noch sagen: „Das war doch alles Propaganda der Amis.“

Das schlimmste daran, das sind ganz normale, nette Menschen, die dir auch mal eben kurz aushelfen, wenn das Geld knapp wird. Aber es sind auch die Leute, die daran Schuld sind, dass die Stadt als Ganzes immer noch nicht mit ihrer Geschichte umzugehen weiß und meistens zu spät dran ist. Besser spät als nie, aber schade.

Es gibt einige ziemlich seltsame Sachen an der Stadt.

Da wäre beispielsweise der erste Stolperstein, der im Sommer diesen Jahres verlegt wurde. Stolpersteine zeigen, wo jüdische Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus wohnten. Auf ihnen eingraviert ist Geburtsdatum, Name und Todesdatum wie -ort. Der Rest soll zur Forschungen animieren. Das ist schon ganz gut, aber das wurde derart gefeiert und als Schritt empfunden, dass ich mich schon gewundert habe.

Dann die NPD. Deren Mitgliederzahl steigt am meisten in der Stadt und drumherum. Gemessen an den anderen Kreisen in Thüringen. Und dann dürfen die auch noch belastete Plätze für ihre Propaganda nutzen und dort einen Stand haben, beispielsweise den Theaterplatz oder auch den Markt. Auf ersterem stehen Goethe & Schiller-Denkmal, welches im zweiten Weltkrieg unter „besonderem“ Schutz stand, an zweiterem ist das Hotel Elephant – Hitlers Lieblingshotel.

Aber es gibt auch gute Seiten. Ein starkes Bündnis gegen Rechtsextremismus. Eine Stadtverwaltung, die gegen die Polizei ermittelt, weil diese zu oft wegsieht. Ein autonomes Jugendzentrum.

Aber zu viele Leute, die nicht hinsehen wollen. Und den Typ mit der Thor-Steinar-Kleidung, der vor meiner Haustür an der Baustelle arbeitet und meine Anti-Nazi-Sticker ständig entfernt.