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Sylvin Rubinstein – Er tanzte das Leben

 

Sylvin Rubinstein als Flamenco-Tänzerin Dolores

Seit einigen Jahren besuche ich regelmäßig den mittlerweile 94jährigen, in Hamburg lebenden Sylvin Rubinstein. Sylvin hat eine schier unglaubliche Geschichte: In Moskau geboren, lebte er vor dem Krieg in Polen und lernte zusammen mit seiner Schwester Ballett. Als Flamenco-Paar ,Imperio und Dolores‘ tanzten sie auf den namhaften Variete-Bühnen Europas, waren internationale Stars – bis zum brutalen Überfall  Nazi-Deutschlands auf Polen.

Im Holocaust verlor Rubinstein nahezu seine gesamte jüdische Familie: Mutter, Ehefrau und Schwester. Er selbst kämpfte im Widerstand mit einem deutschen Major und Partisanen gegen die Nazis. Nach dem Krieg begann er wieder zu tanzen … als Dolores in den Kostümen seiner Schwester.

Ich lernte Sylvin 2004 kennen, als ich für die jährliche antirassistische Veranstaltung „respekt – gegen alltägliche gleichgültigkeit“ der Arbeitsgemeinschaft freier Jugendverbände, für die ich als Bildungsreferent arbeite, das Programm plante. Auf der Veranstaltung wurde der Dokumentarfilm „Er tanzte das Leben“ über Sylvin Rubinstein gezeigt und anschließend mit ihm als Zeitzeugen und dem Regisseur Kuno Kruse über Film und das Leben Sylvins gesprochen. Wenn Ihr die Gelegenheit habt, solltet ihr euch diesen Film ansehen, er fängt das bewegte Leben Sylvins eindrucksvoll ein.

Kruse berichtet über seine ersten Begegnungen mit Sylvin:

„Als mir Sylvin Rubinstein seine Geschichte erzählte, blieb sie mir so unfassbar, dass ich sie kaum glauben mochte: Ein Mann, der in Frauenkleidern für seine Schwester tanzte, weil sie ermordet wurde; ein Major der Wehrmacht, der Anfang der 40er Jahre in Polen unter seinen Kameraden einen Widerstandskreis aufbaute, der gemeinsam mit polnischen Partisanen gegen die Nationalsozialisten kämpfte und jüdische Kinder versteckte. Dieses Leben musste dokumentiert werden. Und dieser Mensch, dessen Sprache die Bewegung ist, der Atemlosigkeit entstehen lässt und Trauer, unter deren Last er selbst zusammenbricht und die er doch täglich zu bezwingen sucht. Marian Czura und ich reisten mit ihm an die Orte seiner Erinnerung. Immer wieder brach er aus, stieß die Kamera um, die er kaum ertragen konnte, haderte mit uns, die wir ihn immer wieder seinen Erinnerungen aussetzten, meinte Misstrauen zu spüren, wenn wir immer wieder nachfragten. Wir kamen an einen Ort in Polen, in dem die Alten ihren Enkeln von dem Mann erzählten, der die Juden versteckte und in Frauenkleider verhüllt Attentate verübte. Wir stießen auf alte Amateurfilme, die den Major und seine Truppe zeigten, und ihn, wie er in Frauenkleidern getarnt 1942 in der Kleinstadt agierte. Und endlich fassten wir das Unfassbare.“

Sylvin Rubinstein

Kurz vor Weihnachten war ich wieder bei Sylvin zu Besuch in seiner kleinen, bescheidenen Wohnung. Stundenlang erzählte er erneut über die schrecklichen Geschehnisse in der Nazizeit, die ihn bis heute nicht loslassen und Albträume bescheren, über seine ermordete Schwester, die er immer noch so sehr vermisst, über seinen heißgeliebten Flamenco, seinen mutigen Widerstand und seinen Neubeginn als Dolores nach dem Krieg. Nach mehreren Tassen Kaffee  muss ich gehen, wir verabschieden uns herzlich voneinander und verabreden uns für Januar. Einmal mehr gehe ich nachdenklich und voller Eindrücke nach Hause, froh diesen Menschen zu kennen.

Wenn ihr irgendwie Gelegenheiten habt, noch Menschen zu treffen und zu hören, die den Naziterror überlebt haben, kann ich euch nur eins raten: nutzt sie unbedingt. Die Begegnungen mit Sylvin, aber auch die mit vielen anderen Zeitzeugen, die ich bisher sehen und hören konnte, prägen einen nachhaltig und machen zudem Mut, immer weiter gegen neue und alte Nazis aktiv zu werden.

Zusätzlich zum Film gibt es im Übrigen ein sehr lesenswertes Buch über Sylvins Leben, ihr solltet es euch zulegen:

Kruse, Kuno: „Dolores & Imperio. Die drei Leben des Sylvin Rubinstein“; KiWi Taschenbuch, 2003, Köln.