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Die Folgen der Extremismus-Debatte – das Beispiel Tostedt

 

Tostedter Nazis in offener NS-Tradition

Die Formel vom politischen »Extremismus« hat aktuell Hochkonjunktur.  War die Extremismus-Theorie lange Zeit Spielwiese konservativer Wissenschaftler und bestimmter Abteilungen des Verfassungsschutzes, so ist sie nun durch die Debatte um die Ausweitung der Bundesprogramme gegen „Rechtsextremismus“ u.a. auf „Linksextremismus“ durch die neue Familienministerin Schröder in Mode gekommen – mit fatalen Folgen. Die Gleichsetzung von „Rechts“ und „Links“ verharmlost und relativiert Nazi-Gewalt.

Nach der Extremismus-Theorie gibt es die auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung basierende gesellschaftliche Mitte – und die extremistischen Ränder, welche ebendiese Mitte gefährden. So oder ähnlich lässt sich die ideologisch motivierte Theorie in Kurzform zusammenfassen, die spätestens seit Familienministerin Schröder wieder durch die Diskurse geistert und ihren Ursprung in den Veröffentlichungen der konservativen Politikwissenschaftler Jesse und Backes haben (mehr über die auch in den Sozialwissenschaften deutlich in der Kritik stehende Theorie hier oder hier ab Seite 9).

Die Extremismustheorie ignoriert bewusst, dass beispielsweise der Nationalsozialismus nur möglich war, weil Antisemitismus, Antikommunismus und antidemokratische Einstellungen bis weit in die Mitte der deutschen Gesellschaft verankert waren. Wie absurd und politisch gefährlich die Gleichsetzung von »Links« und »Rechts« ist, belegen zudem die aktuellen Zahlen des Opferfonds CURA. CURA veröffentlichte erst kürzlich eine neu überarbeitete Liste der Todesopfer rassistischer und neonazistischer Gewalt. Von 1990 bis heute wurden 149 Menschen ermordet. Während das Bundeskriminalamt in einer Ende 2009 veröffentlichten Stellungnahme von lediglich 47 Todesopfern ausgeht, berücksichtigt CURA auch solche Mordtaten, die nicht von offensichtlich bekennenden Neonazis verübt wurden. Aufgenommen wurden auch Fälle, die aus neonazistischen und rassistischen Motiven – und dazu zählt auch der Hass auf ›Andersartige‹, ›Fremde‹ oder ›Minderwertige‹ – begangen wurden oder wenn dafür plausible Anhaltspunkte bestehen. Diese erhebliche Differenz aufgrund der Zählweise verdeutlicht: Der Extremismusansatz verunmöglicht es, rassistische, nationalistische und antisemitische Motivationen als gesamtgesellschaftliches Problem, als deutsche »Normalität«, zu begreifen und adäquat zu bekämpfen. Im Gegenteil: Es kommt zu einer Ausblendung und Verharmlosung.

Das Beispiel Tostedt

Wie hier im Störungsmelder schon mehrfach berichtet (hier und hier), ist im Landkreis Harburg seit geraumer Zeit eine neonazistische Schlägerstruktur mit Kameradschaften, einem eigenem Laden und neuerdings mit einer unheilvollen Verbindung aus Rockerclubs und Nazisszene dabei, den Landkreis mittels SA-ähnlichem Terror zu einer Art „National befreiten Zone“ umzufunktionieren: da werden antifaschistische Jugendliche in ihrer Wohnung im Schlaf überfallen und verprügelt, Verletze und Übergriffe sind mittlerweile an der Tagesordnung (hier findet sich eine kleine Chronik der Übegriffe aus 2009).  Am Pfingstwochenende diesen Jahres kommt es nun zu einer weiteren Eskaltion der Nazi-Gewalt, als nachts eine alternative WG von einer Horde Nazis angegriffen und die Bewohner/innen dabei mit Klappspaten krankenhausreif geprügelt werden. Die viel zu spät eintreffende Polizei lässt die Nazis laufen, stürmt dagegen das Haus und durchsucht dieses ebenso wie die Angegriffenen. Alle Angegriffenen haben mittlerweile Anzeigen wegen „Schwerer Körperverletzung“ erhalten.

Über eine spontane Protestdemonstartion am darauffolgendem Tag schreiben Augenzeugen im Blog „Kraut Detection“, auf dem seit vergangenem Jahr Nazi-Übergriffe bekannt gemacht werden: „Am nächsten Tag gab es als Reaktion auf den Angriff eine Spontandemonstration in Tostedt. Vor dem Neonaziladen „Streetwear Tostedt“ in Todtglüsingen hatte sich eine 23- köpfige Gruppe bewaffneter Neonazis versammelt, Stefan Silar trug unter anderem ein Messer und Vogelschreck bei sich. Direkte gewaltsame Konfrontationen mit Neonazis gab es trotz mehrmaliger Provokation nicht. Dennoch wurden alle DemonstrationsteilnehmerInnen auf einer Bahnbrücke eingekesselt, komplett durchsucht und in einen Zug Richtung Hamburg gezwungen, obwohl mehrere Personen ihr Auto oder ihren Wohnsitz in Tostedt hatten oder eigentlich den Zug in die Gegenrichtung Bremen hätten nehmen müssen. Abseits des Bahnhofs wurden mehrere Autos kontrolliert, handelte es sich bei den Insassen um Jugendliche, erhielten sie einen Platzverweis für die gesamte Stadt Tostedt.  Nach den Vorkommnissen dieser Tage bemühten sich mehrere PressevertreterInnen um Informationen bei der Polizei. Der Angriff in Wistedt wurde dabei auch bei mehrmaliger Nachfrage verschwiegen oder Informationen verweigert. Über die Spontandemonstration hieß es, gewaltbereite „Linksextremisten“ seien nach Tostedt gereist, um die Konfrontation mit den „Rechten“ zu suchen. Kein Wort über neonazistische Gewaltexzesse. Kein Wort über den Grund der Spontandemonstration. Kein Wort über bewaffnete Neonazis und Linke, die weder Steine noch Flaschen warfen geschweige denn die Bullen angriffen. Ähnlich lautete dann auch der Tenor in der Lokalpresse, wo die AntifaschistInnen auf unseriöse Weise diskreditiert wurden.

Neben der Untätigkeit und dem gezielten Abwiegeln der Polizei (O-Ton Polizeichef im Landkreis Harburg, Uwe Lehne : „Tostedt ist Bunt. Braun ist auch eine Farbe.“) führt die unhaltbare Gleichsetzung von Links und Rechts  mittels der Extremismus-Theorie und die damit einhergehende Entpolitisierung des Konfliktes nun dazu, dass die Polizei mit Führerscheinentzug bei politischen Straftaten droht – egal um was und wen es geht.

Doch die Gleichsetzung von Opfern und Tätern geht noch weiter.  Anstatt sich uneingeschränkt solidarisch mit den von Nazi-Gewalt immer wieder betroffenen antifaschistischen Jugendlichen zu erklären und beispielsweise in einer gemeinsamen Veranstaltung die Nazi-Übergriffe zu thematisieren, zeigt das „Forum für Zivilcourage“ in Tostedt, welches ansonsten durch die Thematisierung von Nazi-Gewalt wertvolle Arbeit in der Region leistet, durch die Vermittlung der Polizei Tostedt ab Ende August die Ausstellung des Landesverfassungsschutzes Niedersachsen zum Thema Rechtsextremismus und eben auch Linksextremismus. Botschaft dieser Ausstellung dürfte ebenso sein: Links gleich Rechts. Alles irgendwie gleich und irgendwie abzulehnen. Alles Extremisten. Dass Nazis seit geraumer Zeit versuchen, alles was anders ist, im Landkreis von der Straße zu prügeln, ist dann kein Thema mehr. Und dass diejenigen, die sich noch gegen diesen Terror wehren, mit den Nazi-Tätern auf eine Stufe gestellt werden, ebensowenig.

Auf der Welle des Extremismus-Diskurses ist es einer offenbar auf dem rechten Auge sehr sehschwachen Polizei gelungen, zivilgesellschaftliche gegen antifaschistische Kräfte  auszuspielen und dabei die antifaschistischen Jugendlichen in der Öffentlichkeit  als ebenso gefährlich wie die Nazis zu diskreditieren und kriminalisieren. Gerade antifaschistische Jugendkulturen gehören für Nazi-Strukturen jedoch zu den schwierigsten Hindernissen beim Aufbau von nationalen „No-Go-Areas“ .  Sie stehen den Nazis beim Aufbau einer jugendkulturellen Hegemonie im Weg, da sie sich nicht einfach so einschüchtern lassen und selbst eine eigene jugendkulturelle Alternative bieten.

Umso stärker ist den zivilgesellschaftlichen Kräften im Landkreis Harburg anzuraten, das breite Bündnis mit den Angegriffenen zu suchen, um Schritt für Schritt die Nazis effektiv zurückzudrängen. Die Extremismus-Theorie will jedoch genau dies verhindern – sie kriminalisiert antifaschistisches Engagement und stärkt damit den Vormarsch der Nazis. Die Extremismus-Theorie gehört auf den Müllhaufen der Geschichte – sie ist einfach zu gefährlich.