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„Er wollte die Zukunft der Sozialdemokraten auslöschen“

 

Norwegen trauert um die mehr als 90 Todesopfer ©Wolfgang Rattay/Reuters

Der Bombenanschlag und die Todesschüsse in Norwegen haben die Welt geschockt. Inzwischen steht fest, dass der Rechtsextremist Anders B. seine Tat jahrelang geplant hatte, um ein bizarres, rassistisches 1500-Seiten-Manifest weltweit bekannt zu machen. Auf einem Foto hält er ein Sturmgewehr – auf dem Arm ein Aufnäher mit den Worten „Marxist Hunter Norwegen – Erlaubnis zur Jagd von Multi-Kulti-Verrätern“. Der Störungsmelder sprach mit dem norwegischen Szenekenner Terje Emberland vom Center for Studies of Holocaust and Religious Minorities in Oslo über die Motivation des Täters.

Herr Emberland, kam Anders Behring B. wirklich aus dem Nichts, wie jetzt von einigen behauptet wird?

Er war kein völlig Unbekannter, ab Ende der 1990er Jahre war er Mitglied in der Jugendorganisation der extrem rechten Fortschrittspartei, die er im Jahr 2007 verließ. Er war der Überzeugung, dass die Partei – die klar extrem rechte und xenophobe Positionen vertritt – nicht hart genug Stellung bezog gegenüber der „multikulturellen Bedrohung“ und Überfremdung Europas, wie B. es formulierte.

Hat B. dann weiterhin öffentlich für seine Überzeugungen geworben?

Er beteiligte sich eine Zeit lang immer wieder an Diskussionen in rechtsextremen Internet-Foren. Vor ein paar Jahren versuchte er dann eine eigene Organisation nach dem Vorbild der British Nationalist Party aufzubauen (bei der BNP handelt es sich um eine rechtsextreme Partei, die behauptet die britische Gesellschaft sei „überfremdet“ und weiße Briten würden zur Minderheit im eigenen Land. Anm. d. Autorin). Dieser Versuch scheiterte allerdings kläglich. Im Jahr 2009 meldete sich Anders B. als Mitglied beim rechtsextremen Internetforum Nordisk an, das von schwedischen Neonazis betrieben wird und rund 22.000 Mitglieder aus ganz Skandinavien hat. Dort bezeichnete er sich selbst als konservativen Nationalisten.

Der Attentäter kommt also nicht aus den neonazistischen skandinavischen Milieus, die ja zumindest in Schweden auch immer wieder durch extreme Gewalttätigkeit bis hin zu kaltblütigen Morden und Bombenanschlägen gegen politische Gegner, aber auch Schwule und Migranten aufgefallen sind?

Nein, Anders B. ist kein Neonazi. Die Neonaziszene in Norwegen ist wirklich sehr klein und politisch bedeutungslos. Dort wäre er uns aufgefallen, weil die allermeisten Neonazi-Aktivisten in Norwegen den Sicherheitsbehörden und unabhängigen Monitoring-Organisationen gut bekannt sind. B. hingegen versteht sich als konservativer Revolutionär. Er sieht seine Hauptfeinde im Islam, im „Multikulturalismus“ und der „Überfremdung“.

Und warum hat er sich dann die Sozialdemokraten und deren Jugendorganisation als spezifisches Ziel ausgesucht?

Dazu muss man verstehen, dass sein Weltbild eine Mischung aus rechtsextremer, rassistischer und xenophober Ideologie und extremen Verschwörungstheorien ist. In dieser Verschwörungslogik sind die norwegischen Sozialdemokraten diejenigen, die für die Idee einer offenen Gesellschaft stehen und denen B. daher die Verantwortung für „Überfremdung“ der norwegischen Gesellschaft und den Untergang einer vermeintlich europäisch-christlichen Kultur zuschreibt. Mit den Morden auf der Insel Utøya wollte B. ganz offensichtlich die Zukunft der Sozialdemokraten auslöschen, die Jugendlichen, die ja die Hoffnungsträger der Gesellschaft und für gesellschaftliche Veränderungen sind. Und gleichzeitig sehe ich die Ursache für seine Taten in der politischen Bedeutungs- und Machtlosigkeit der extremen Rechten in Norwegen. Mit den Anschlägen wollte Anders B. offensichtlich ein Fanal setzen, um die seiner Meinung nach zu lasch agierende, nur auf Rhetorik und nicht auf Taten abzielende extreme Rechte zum Handeln zu bewegen und gesellschaftliche Veränderung zu erzwingen.

Woran hat Anders B. sich dabei orientiert?

Sein Vorgehen erinnert zum einen an das Attentat des rechtsextremen Timothy McVeigh und seines Helfershelfers 1995 auf das Regierungsgebäude Oklahoma City, das ja auch mit einer Autobombe aus Kunststoffdünger verübt wurde, und zum anderen an das Columbine High School Massaker 1999 in einer Kleinstadt in Colorado in den USA (Fehler von der Redaktion korrigiert). Und man darf nicht vergessen, dass sein Weltbild – soweit bislang bekannt – extrem viele verschwörungstheoretische Momente enthält. B. hat die Attentate sorgfältig und über einen längeren Zeitraum geplant. Darauf deuten der Erwerb des Biobauernhofs, um legal große Mengen an Kunststoffdünger erwerben zu können ebenso wie die Tatsache, dass er sich vor circa einem Jahr aus den rechtsextremen Foren zurückgezogen hat.

Und was hat ihn motiviert?

Ich denke, dass er aus einer Mischung aus Verschwörungstheorien, wahnhaften messianischen Zügen – er hält sich ja für einen Widerstandskämpfer – und Hass auf eine multikulturelle Gesellschaft getrieben war und daher den Nachwuchs des politischen Gegners, die nächste Generation der sozialdemokratischen Partei töten wollte.

Das Interview führte Heike Kleffner.