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Wolfgang Wippermann: „Die Singularität von Auschwitz ist ein unhaltbares Dogma“ – Teil 2

 

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Der renommierte linke Kritiker von Totalitarismus- und Extremismustheorien, Wolfgang Wippermann, ist ein Schüler Ernst Noltes und zugleich einer seiner größten Kritiker. Im Gespräch mit Mathias Brodkorb bezeichnet er die These von der Singularität des Vernichtungslagers Auschwitz, um die sich der „Historikerstreit“ des Jahres 1986 drehte, dennoch als ein „unhaltbares Dogma“. Das Interview ist ein Abdruck aus dem Band „Singuläres Auschwitz„.

Brodkorb: Aber Nolte hat doch in seinen Texten die Singularität von Auschwitz immer wieder hervorgehoben und nicht bestritten, in eben denselben Worten wie Sie?

Wippermann: Das hat er nicht.

Brodkorb: Hat er doch, schon in seinem FAZ-Artikel (… zeigt Wippermann die entsprechende Passage).4

Wippermann: (lacht) Ja, Sie sind gut! Da macht Nolte zwar die qualitative Unterscheidung zwischen dem Rassenmord und dem Klassenmord, hebt sie aber wenig später mit der Theorie vom kausalen Nexus wieder auf.

Brodkorb: Aber das sind doch zwei ganz verschiedene Dinge, erstens die Frage, ob Auschwitz singulär sei und zweitens, warum.

Wippermann: Ja sicher, aber auf die These vom kausalen Nexus kommt es mir ja gerade an. Damit hat Nolte die Totalitarismustheorie letztlich wiederbelebt. Was die Singularität von Auschwitz angeht, die ist ein Dogma, ein unhaltbares Dogma. Ich habe in einem Vortrag in Yad Vashem selbst einmal darauf hingewiesen, dass der Genozid an den Juden nicht singulär war. Sie müssen zum Beispiel auch den Völkermord der Nazis an den Roma in den Blick nehmen oder vielleicht auch den an den Armeniern. Hieraus folgt auch keine Verharmlosung, denn ein Völkermord und noch ein Völkermord sind nicht null Völkermorde, sondern zwei Völkermorde.

Brodkorb: Das ist natürlich jetzt komisch: Sie sind ein scharfer Kritiker Noltes, vertreten aber – auf der abstrakten Ebene – wie er die These, dass Auschwitz nicht singulär sei; wobei man der Fairness halber sagen muss, dass Nolte der These massiv widersprechen würde, dass er die Singularität von Auschwitz bestritten hätte. Das ist aber genau jener Punkt, der Nolte von Jürgen Habermas damals in erster Linie zum Vorwurf gemacht wurde.

Wippermann: Aber Sie finden doch in der Geschichtswissenschaft heute keinen ernsthaften Denker mehr, der am Singularitätsdogma festhält.

Brodkorb: Nicht?

Wippermann: Nein, natürlich nicht und in dieser Hinsicht hat Nolte auch gewonnen. Allerdings geht sein Sieg so weit, dass inzwischen auch munter Adolf Hitler mit Erich Honecker verglichen wird, was natürlich grotesk ist und gar nicht geht. Aber wenn Sie sich wie ich mit der Genozidforschung beschäftigen, können Sie nicht weiter am Singularitätsdogma festhalten. Das Dritte Reich war ein Rassenstaat, der einen Rassenkrieg geführt hat. Wir, die Deutschen, wollten zwei Völker auslöschen: die Juden und die Roma. Das ist sozusagen eine doppelte Schuld, die wir auf uns geladen haben. Der Mord an den Juden war nicht der einzige Völkermord der Nazis. Das kann man nicht einfach ignorieren.

Brodkorb: Was sagen Sie eigentlich zu Noltes Kernthese, dass die Nazis in erster Linie Antibolschewisten bzw. Antimarxisten waren?

Wippermann: Der Faschismus kann nicht auf ein „Anti“ reduziert werden. Faschisten waren Antibolschewisten ebenso wie Antisemiten bzw. Rassisten.

Brodkorb: Das ist ja klar, aber in welchem Bedingungsverhältnis stehen diese Ideologieelemente zueinander. Was war historisch dominant, zum Beispiel bei Hitler?

Wippermann: Das halte ich für schwierig zu sagen. Man kann Hitler jedenfalls nicht auf eines dieser Elemente reduzieren, sie umfassen beide für sich betrachtet nicht das Ganze.

Brodkorb: Wenn man Ihnen so beim Sprechen zuhört und Ihre Texte liest, kann schon der Eindruck entstehen, dass sehr viele Werturteile, auch politische Werturteile in ihre Analysen eingehen. Inwieweit bestimmen diese politischen Momente auch ihr Selbstverständnis als Wissenschaftler?

Wippermann: An dieser Stelle bekommen Sie mich immer. Ich bin 1945 geboren, mein Vater war Hauptsturmführer der Waffen-SS – wie das immer so ist bei alten Antifaschisten, die haben häufig eine faschistische Vergangenheit. Ich weiß bis heute nicht, ob mein Vater ein Massenmörder war. Ich bin im Prinzip auch ein Nationalist. Ich frage mich immer: Warum ausgerechnet mein Volk? Außerdem bin ich Christ, Protestant. Das ist mein Standpunkt und prägt meine Perspektive und insofern ist das alles natürlich auch eine furchtbar moralisch überladene Geschichte. Ich halte dabei die moralischen und politischen Urteile auch nicht aus der Wissenschaft heraus. Ich stehe dazu und versuche die Dinge zu reflektieren. Das Gegenteil wäre ein naiver Glaube an den Historismus.

Brodkorb: Wie würden Sie eigentlich Ihr methodisches Selbstverständnis beschreiben?

Wippermann: Ich finde ganz passend, wie meine Schüler dies in einer Festschrift formuliert haben: „Ideengeschichte als politische Aufklärung“5. Ich hatte so viele Themen, das werden jetzt immer mehr. Ich habe gerade ein Buch über Preußen geschrieben, über Fundamentalismus usw. Ich will mich da nicht auf den Nationalsozialismus festlegen, das wäre ja furchtbar.

Brodkorb: Ich meinte jetzt nicht die Themen, sondern die Methoden. Wo würden Sie sich zwischen Sozialgeschichte und Historismus einordnen?

Wippermann: Naja, eben Ideengeschichte oder Ideologiegeschichte mit aufklärerischem Anspruch. Sie würden vielleicht sagen: mit geschichtspolitischer Tendenz. Das sozialgeschichtliche Dogma, den Ansatz der Sozialgeschichtler teile ich nicht. Man kann nicht alles sozialgeschichtlich erklären, vor allem den Faschismus nicht. Der Faschismus ist, darin folge ich ganz Nolte, vor allem ein ideologisches Problem.

Brodkorb: Also haben die Ideen einen Vorrang vor den gesellschaftlichen Verhältnissen? Das würde immerhin zu Ihrem aufklärerischen Impetus passen.

Wippermann: Tja, was heißt schon „Vorrang“? Es kommt eben immer auf den konkreten Fall an.

Brodkorb: Ihr methodisches Verständnis kommt mir reichlich, sagen wir, „pragmatisch“ vor. Ich würde aber gerne noch einmal auf Ihre Kritik des „Singularitätsdogmas“ zurückkommen. Verblieben Sie am Ende nicht doch innerhalb des Singularitätsparadigmas? Sie lösen zwar die Singularität auf Seiten der Opfer auf, aber nicht auf Seiten der Täter. Die Verbrechen der Nazis wären immer noch singulär, nur dass diese Verbrechen von qualitativ neuer Dimension nach Ihrer Meinung nicht nur an den Juden, sondern auch an den Roma verübt wurden. Spannend wird es ja erst so richtig, wenn man auch den Kreis der singulären Täter verlässt. Sie sprachen selbst die Armenier an. Müsste man den Völkermord an den Armeniern qualitativ auf eine Stufe stellen mit den Genoziden an den Juden und Roma?

Wippermann: Da ist etwas dran, aber da müsste man dann ganz stringent und theoretisch von der Genozidtheorie ausgehen und sie anwenden. Da blieben dann aber immer noch Probleme.

Brodkorb: Herr Wippermann, ich muss etwas unhöflich werden: Weichen Sie einer konkreten Antwort aus? Das alles erinnert mich etwas an den „schwebenden Stil“.

Wippermann: Ja, das ist richtig, aber das ist gar nicht unhöflich. Das ist ja alles auch nicht so einfach. Wenn man also die Genozidforschung anwendet und im Fall der Armenier feststellt, dass dort durchaus auf Totalität abgestellt wurde und auch rassistische Motive im Spiel waren, dann könnte man das qualitativ entsprechend einordnen.

Brodkorb: Ich bin geneigt, Ihre Antwort als ein klares „Ja“ zu interpretieren.

Wippermann: Das könnte man so sagen.

Brodkorb: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Zum ersten Teil des Interviews

Fußnoten

4 Es geht um die Sätze: „Erst in diesem Rahmen würde ganz deutlich werden, daß sich trotz aller Vergleichbarkeit die biologischen Vernichtungsaktionen des Nationalsozialismus qualitativ von der sozialen Vernichtung unterschieden, die der Bolschewismus vornahm. Aber so wenig wie ein Mord, und gar ein Massenmord, durch einen anderen Mord ‚gerechtfertigt‘ werden kann, so gründlich führt doch eine Einstellung in die Irre, die nur auf den einen Mord und den einen Massenmord hinblickt und den anderen nicht zur Kenntnis nehmen will, obwohl ein kausaler Nexus wahrscheinlich ist.“ (Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: „Historikerstreit“, 3. Auflage, München 1987, S. 39-47, hier S. 46.)
5 Stefan Vogt/Ulrich Herbeck/Ruth Kinet/Susanne Pocai/Bernard Wiaderny (Herausgeber), Ideengeschichte als politische Aufklärung: Festschrift für Wolfgang Wippermann zum 65. Geburtstag, Berlin 2010.

Mathias Brodkorb (Hrsg.):
Singuläres Auschwitz?
Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre „Historikerstreit“
(Adebor Verlag)
ISBN: 978-3-9809375-9-7
Paperback ca. 180 S. – 19,0 x 12,0 cm
Preis: 14,90 Euro

Foto: Screenshot YouTube