Lesezeichen
‹ Alle Einträge

„Wir wollen eine grenzenlose solidarische Gesellschaft“

 

Am kommenden Wochenende werden tausende Menschen in Rostock zu der bundesweiten Demonstration „Das Problem heisst Rassismus“ erwartet. Der Störungsmelder hat das Bündnis zu den geplanten Protesten und ihren Problemen mit der Stadt Rostock befragt.

Es ist jetzt 20 Jahre her, dass in Rostock Neonazis mit direkter oder indirekter Unterstützung von Einwohner und unter den Augen der Polizei sowie zahlreicher Kameras ungehindert Jagd auf Asylbewerber, Roma sowie Vertragsarbeiter aus Vietnam machen konnten. Dabei wurde auch das Sonnenblumenhaus mit Brandsätzen angegriffen, in dem sich noch über 100 Menschen befanden. Das bundesweite Bündnis mobilisiert nun für den 25. August zu einer Kundgebung, einer Demonstration und einem Konzert. Wer genau ist dabei?

Das Bündnis besteht aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Das geht von migrantischen Selbstorganisationen, Flüchtlingsinitiativen, linken sowie Antifa- und Antiragruppierungen, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes über die Ver.di-Jugend, Solid und die Jusos Berlin bis hin zu größeren Zusammenschlüssen wie dem umsGanze!-Bündnis, Gruppen der Interventionistischen Linken oder die bundesweite Initiative ‘Rassismus tötet’. Alles in allem ein breites Bündnis aus Rostock und dem gesamten Bundesgebiet unterstützt von Prominenten aus Kultur und Gesellschaft.

Was plant das Bündnis für den 25. August und mit welcher Intention?

Zuerst wird es ab 11.00 Uhr eine Gedenkkundgebung vor dem Rathaus geben. Hier soll an die Pogrome von 1992 erinnert, der Betroffenen sowie aller Opfer neonazistischer und rassistischer Anschläge und Übergriffe gedacht werden. Aber es soll auch auf die Täter_innen und Brandstifter_innen hingewiesen werden, die nicht ohne Unterstützung der Justiz und zuständiger politischer Verantwortlicher straffrei ausgingen. Ein weiterer Schwerpunkt wird sein, die direkte Verknüpfung bzw. Wechselwirkung von rassistischer und sozial ausgrenzender Politik darzustellen. Wir zeigen die Stimmungsmache mit solchen rassistischen Pogromen durch Vertreter_innen aus Politik, Medien und Gesellschaft auf. Dabei wirkte die herrschende Politik nicht nur als geistige Brandstifterin, sondern benutzte die provozierte Gewalt dann, um repressive und ausgrenzende Gesetze durchzusetzen sowie das Grundrecht auf Asyl de facto abzuschaffen. Eine ursachen- und systembezogene Aufarbeitung fehlt ebenso, wie eine offensive Gedenkpolitik und Auseinandersetzung mit Rassismus, die über Symbolpolitik und Scheindebatten hinaus geht. Wohl auch, weil sich einige Mittel, Methoden und Legitimationsstrategien für repressive, polarisierende, hierarchisierende und ausgrenzende Politik, für Entsolidarisierung und das Ausspielen der Menschen gegeneinander zum eigenen Vorteil bzw. für eigene Macht- und Herrschaftsinteressen kaum geändert haben. Geplant ist darüber hinaus die erneute Anbringung der Gedenktafel, die von Beate Klarsfeld als Vertreterin der »Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs« 1993 am Rostocker Rathaus angebracht aber sofort wieder entfernt wurde.

Und dann gibt es die Demonstration ab 14.00 Uhr?

Ja. Rostock-Lichtenhagen und das Sonnenblumenhaus sind zum Symbol für das Zusammenspiel von Politik, Rassismus als gesamtgesellschaftlichem und systembedingtem Problem, rechter Gewalt und staatlichem Versagen geworden. Sie stehen stellvertretend für 17 aus rassistischen Motivationen heraus ermordete und weitere 450 zum Teil schwerverletzte Menschen Anfang der neunziger Jahre. Sie stehen für weitere rassistische Anschläge wie Hoyerswerda, Mölln, Solingen oder Mannheim. Sie stehen aber auch für Verdrängung, Abwehr, gesellschaftliches Versagen und Nichtaufarbeitung, die sich bis heute in »Debatten« um die ca. 180 durch Neonazis und Rassisten seit 1990 ermordeten Menschen, um die Morde der Neonazigruppierung »Nationalsozialistischer Untergrund« und bis hin zum »Fall Drygalla« widerspiegeln. Rassismus bleibt ein gesamtgesellschaftliches Problem und findet sich in der »Mitte der Gesellschaft«. Dort wollen wir hin. An diesem authentischen Ort der Opfer rechter, rassistisch motivierter Gewalt erinnern und gedenken. Nicht um positive Ansätze zivilgesellschaftlichen Engagements zu leugnen oder zu ignorieren, sondern um darauf hinzuweisen, dass dies angesichts des derzeitigen Rechtsrucks und wachsendem Rassismus nicht ausreicht. Insbesondere in Krisenzeiten ist die Suche nach Sündenböcken erneut zu einem beliebten Gesellschaftsspiel geworden.

Beim Abschlusskonzert spielt u.a. die Band »Feinesahnefischfilet«. Diese soll deshalb im Vorfeld von Neonazis bedroht worden sein?

Das stimmt. Es ist ja nicht neu, dass Menschen, die nicht in das rechte Weltbild passen und sich gegen Nazis und Rassist_innen engagieren, von diesen bedroht und angegriffen werden. Linke bzw. alternative Projekte etwa müssen immer mit Brandanschlägen rechnen. Es ist wohl auch nicht die erste Drohmail an diese Band. Die Mitglieder haben aber betont, sich davon keinesfalls einschüchtern zu lassen oder Neonazis irgendwelche Räume zu überlassen, auch nicht nach dem letzten Brandanschlag auf ein Gebäude des Vereins »Alternatives Wohnen in Rostock e.V.«. Um solche Fälle sollte sich Innenminister Caffier kümmern, anstatt antifaschistisches Engagement zu kriminalisieren. Neben Feinesahnefischfilet treten zudem die Bands »Frittenbude«, das »Berlin Boom Orchestra« und »Kobito« auf.

Sie spielen mit dem Innenminister auf die angekündigte massive Polizeipräsenz an?

Auch. Es scheint gängige Praxis einiger politisch Verantwortlicher sowie Vertreter_innen bei der Polizei geworden zu sein, insbesondere bei antifaschistischen oder als »links« eingestufter Versammlungen im öffentlichen Raum durch Vorabkriminalisierung und Eskalation eine erwünschte Gefahrenprognose zur Legitimation von massiver Polizeipräsenz zu konstruieren. Caffier spricht dabei von sich als »gebranntes Kind« und geht hierbei so weit, indirekt die Gedenkveranstaltungen mit den Pogromen gleichzusetzen, also die tödliche Gefahr die von Nazis und Rassist_innen ausgeht, zu verharmlosen und uns zu kriminalisieren. Dass darüber hinaus eine derartige Droh- und Einschüchterungskulisse insbesondere von Rassismus, Ausgrenzung und staatlicher Repression bedrohte Menschen wie Flüchtlinge, Asylbewerber_innen, Sinti und Roma oder Menschen mit Migrationsgeschichte von der Teilnahme abhalten könnte, dürfte auch Caffier bekannt sein. Hier muss man fragen, ob das gewollt ist? Dabei hätte Caffier doch genug zu tun, um sich z.B. mit Rassismus in der Polizei und anderen ihm unterstellten Behörden zu kümmern. Oder zu hinterfragen, warum damals nicht eingegriffen wurde bzw. nur gegen antifaschistische Proteste. Dann würden vielleicht stigmatisierende und diskriminierende Zuschreibungen wie z.B. »Zigeuner« aus Pressemitteilungen der Polizei zu mutmaßlichen Straftäter_innen unterbleiben, Menschen nicht mit unverhältnismäßiger Polizeigewalt angegriffen oder wegen ihres Aussehens verdachtsunabhängig kontrolliert werden.

Ihre Kritik richtet sich aber auch an Bundespräsident Joachim Gauck?

Sowohl die Äußerungen von Innenminister Caffier als auch die von Bundespräsident Gauck zeigen das Problem der Nichtaufarbeitung, des Desinteresses und den einseitigen und unsensiblen Umgang mit Rassismus auf. Das kontinuierliche staatliche, politische und behördliche Versagen bis heute wird einfach ignoriert, Anschläge und Morde werden verharmlost bzw. relativiert und teils auf den Kontext »ehemalige DDR« reduziert. Mölln, Solingen und Mannheim bleiben dabei ebenso außen vor, wie die zahlreichen Anschläge und Morde durch Nazis und Rassisten vor 1990. Noch absurder wird es wenn Gauck aus Täter_innen »Verführte« und somit Opfer sowie als alleinige Brandstifter_innen die Neonazis als vereinzelte »Verführer_innen« konstruiert. Da ist es dann kaum noch verwunderlich, dass er ausgerechnet eine »deutsche Eiche« pflanzen will, die seit dem Kaiserreich für militärische Tugenden von Härte und Unbeugsamkeit steht. Für diese Steilvorlage bedanken sich derzeit Neonazis im Internet mit Vergleichen zu gepflanzten »Hitlereichen« in der Zeit des Naziregimes. Abwarten also, ab wann dieses von den Neonazis als »Asylanten-Eiche« bezeichnete Gedenksymbol als Wahlfahrtsort von Nazis auserkoren wird.

Welche Forderungen verbinden Sie mit Ihren Aktivitäten in Rostock?

Wir fordern endlich eine tiefgreifende, ursachenbezogene und lösungsorientierte Debatte über Rassismus und Ungleichwertigkeitsdenken. Außer Absichtserklärungen und Symbolpolitik ist auch nach der Aufdeckung der NSU-Morde nichts passiert. Im Gegenteil. Unter dem Deckmantel »Integrationsdebatte« wurden erneut systembedingte Probleme den Betroffenen selbst in die Schuhe geschoben. Als Begründndung müssen ihre Herkunft, Religion, Lebensweise oder der soziale Status herhalten. Weiterhin wird intensiv daran gearbeitet das Existenzrecht von Menschen unter Finanzierungsvorbehalt zu stellen und Menschen auf einen ökonomischen Mehrwert für die sogenannte Mehrheitsgesellschaft zu reduzieren. Dazu werden sie in »Nützliche« und »Nutzlose« eingeteilt. In historischer Kontinuität wird versucht z.B. »Sozialschmarotzer« oder »Integrationsverweigerer bzw. -unfähige« zu konstruieren. Hier stand und steht Sarrazin Pate. Dieser Weg führt in eine Sackgasse und nicht zu einer solidarischen, gleichberechtigten und selbstbestimmten Zukunft für alle. Aus gedenkpolitischer Sicht fordern wir anstatt der »deutschen Eiche« einen würdigen Gedenkort der eine umfassende Aufarbeitung einschließt. Darüber hinaus schließen wir uns den Forderungen nach der Straßenumbenennung des Neu-Dierkower-Wegs in Mehmet-Turgut-Weg, einem der NSU-Mordopfer in Rostock, an. Wir wissen aber auch, dass dies nur ein Anfang sein kann, ebenso wie unsere Aktivitäten am kommenden Samstag. Auch danach werden wir nicht locker lassen. Ziel ist die Abschaffung aller rassistischer und sozial ausgrenzender Gesetze, Gleichstellung und Chancengleichheit für alle Menschen und eine grenzenlose solidarische Gesellschaft.

Samstag 25.08.2012 | 11 Uhr, Kundgebung | vor dem Rathaus, Rostock-Stadtzentrum
Samstag 25.08.2012 | 14 Uhr, Demo | S-Bhf. Rostock Lütten Klein

weitere Informationen: www.lichtenhagen.net