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Experten zählen mehr Anschläge als die Regierung

 

Rechtsextremismus: Experten zählen mehr Anschläge
Immer mehr rassistische Gewalt und Brandanschläge

Die Zahl der rechten Straftaten und Aufmärsche gegen Flüchtlingsunterkünfte ist seit Ende 2014 sprunghaft angestiegen, das geht aus einer Studie der Bundestagsfraktion der Linken hervor, die gestern in Berlin vorgestellt wurde. Mit der Erstellung der Auswertung der Zahlen hatte die Linke das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum (apabiz) beauftragt. Die Berliner Rechtsextremismus-Experten werteten dafür die im Bundestag quartalsweise abgefragten Zahlen zu rechtsextremen Straftaten und Aktivitäten aus und ergänzten diese mit den Ergebnissen eigener Recherchen.

Von Paul Liszt

Die Zahlen sind alarmierend, hatte die Bundesregierung im dritten Quartal 2014 noch 30 als rechtsextrem eingestufte Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte gezählt, waren es in den letzten drei Monaten des Jahres bereits 77 Fälle. Seitdem setzt sich der Anstieg kontinuierlich fort: Von Januar bis März 2015 registrierte das Bundeskriminalamt 85 Angriffe auf Asylunterkünfte, zwischen April und Juni 88 Taten. Autor Kilian Behrens hat die insgesamt 173 Straftaten im ersten Halbjahr 2015 auch im Hinblick auf ihre geografische Verteilung im Bundesgebiet untersucht. Hierbei fällt auf, dass mit 97 Straftaten die absoluten Zahlen in den westlichen Bundesländern höher lagen als im Osten der Republik mit 76 Fällen. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl betrachtet liegen mit Sachsen, Brandenburg und Berlin allerdings drei ostdeutsche Bundesländer an der Spitze.

Ein besonderes Augenmerk liegt in der apabiz-Studie auf Brandstiftungen und versuchten Brandstiftungen an geplanten und bereits bezogenen Flüchtlingsunterkünften. Bis zum 29. September wurden der Auswertung zufolge 63 solcher Brandanschläge gezählt, davon die meisten in Sachsen (9), Bayern (8) und NRW (8). 37 der 63 Anschläge richteten sich gegen bereits von Flüchtlingen bewohnte Unterkünfte. Seit dem Sommer nehmen die Zahlen deutlich zu, so ereigneten sich 47 der 63 Fälle im Zeitraum seit Juli.

Als Quellen für die Auflistung dienten neben den Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen vor allem Presseberichte und Meldungen zivilgesellschaftlicher Initiativen und unabhängiger Beratungsstellen. Die Zahlen zu den Brandanschlägen in der aktuellen Studie liegen damit deutlich über den offiziellen Zahlen der Bundesregierung. Die tageszeitung hatte vor einigen Tagen unter Berufung auf eine interne Statistik des Bundeskriminalamtes von 26 Brandanschlägen und 59 weiteren Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte berichtet. Diese Differenz dürfte vor allem in den unterschiedlichen Kriterien der Erfassung begründet sein. Während Kilian Behrens auch Verdachtsfälle mit berücksichtigt hat, zählt das BKA nur Fälle in denen andere Brandursachen als eine flüchtlingsfeindliche Brandstiftung sicher ausgeschlossen werden können.

Nicht nur die Zahl der Straftaten und Brandstiftungen hat im untersuchten Zeitraum zugenommen. Immer öfter marschieren Rechtsextreme auch bei Demonstrationen gegen Flüchtlinge auf. Auch hier ergibt sich ein auffällig großer Unterschied zwischen offiziellen Zahlen und den Zählungen zivilgesellschaftlicher Stellen. Die nun vorgelegte Auswertung stellt am Beispiel Berlin die Antworten der Bundesregierung auf Anfragen zu rechtsextremen Aufmärschen den Rechercheergebnissen des apabiz gegenüber.

Demnach stellten die Szenekenner in der Hauptstadt im letzten Quartal 2014 insgesamt 22 rechtsextreme Versammlungen mit zusammengerechnet rund 5.000 Teilnehmern fest. In den ersten drei Monaten des Jahres 2015 waren es 34 Veranstaltungen bei gleichbleibender Teilnehmerzahl. Die Bundesregierung zählte im selben Zeitraum eine rechtsextreme Demonstration im vierten Quartal 2014 und zwei Demonstrationen im ersten Quartal 2015. Das liegt vor allem daran, dass die Bundesregierung trotz anderslautender Anhaltspunkte die montäglichen Aufmärsche gegen eine Flüchtlingsunterkunft im Bezirk Marzahn und die seit Januar wöchentlich stattfindenden Bärgida-Demonstrationen nicht als rechtsextreme Versammlungen einstuft und in ihren Zahlen daher nicht berücksichtigt.