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Neonazis aus ganz Deutschland „trauern“ in Köthen

 

In Sachsen-Anhalt kommt ein junger Deutscher nach einem Streit ums Leben, reflexartig rufen Rechtsextremisten mit Erfolg zu angeblichen Trauermärschen auf – wie in Chemnitz. Das Potenzial der Szene ist weiter groß.

Von Hardy Krüger

Teilnehmer des Trauermarsches durch Köthen © Hardy Krüger

In diesem Jahr hat die Neonaziszene deutlich gezeigt, wie gefährlich sie immer noch ist. Denn wie früher gelingt es rechtsextremen Vordenkern, mehrere Hundert bis mehrere Tausend Menschen mit einem Aufruf auf die Straße zu bringen. Für die Muskelspiele der Szene braucht es lediglich einen Anlass – wie die angebliche Trauer um Opfer von Gewaltverbrechen. So war es in Chemnitz. So war es am Sonntagabend auch in Köthen in Sachsen-Anhalt.

Mindestens 800 Teilnehmer, andere Quellen sprechen von bis zu 2.500, folgten dem Aufruf zweier Rechtsextremisten. Schon im Vorfeld kochen die Befürchtungen hoch: Wird Köthen das neue Chemnitz? Werden auch hier Menschen auf offener Straße angegriffen? Zieht ein nicht kontrollierbarer Mob unbehelligt von der Polizei durch die Stadt?

Zu Beginn, am frühen Abend, ist es noch ruhig in Köthen. Schweigend gehen die Demonstranten voran auf ihrem vermeintlichen Trauermarsch. Das Ziel ist ein Spielplatz. Dort war es in der Nacht zu Sonntag zu einem Streit zwischen zwei Männergruppen gekommen. Ein Deutscher starb, zwei Afghanen wurden festgenommen.

Tod auf dem Spielplatz

Bei einem Streit zwischen mehreren Afghanen soll es um eine Frau gegangen sein. Zwei Deutsche mischten sich ein, es kam zu Gewalt. Für den 22-jährigen Markus B. endete die Schlägerei tödlich. Er soll mehrere Tritte gegen seinen Kopf erlitten haben. Laut Staatsanwaltschaft litt B. an einer Vorerkrankung und sei in Folge dieser an einem akuten Herzversagen gestorben. Die Afghanen wurden festgenommen, es wird wegen Körperverletzung mit Todesfolge ermittelt.

Als Erster rief der niedersächsische Neonazi Dieter Riefling via Twitter unter dem Motto „Chemnitz ist auch Köthen“ zu einem Marsch in der 26.000-Einwohner-Stadt auf. Wenig später folgte der Thüringer Rechtsextremist David Köckert von den Republikanern mit einem weiteren Appell. Auch die sachsen-anhaltinische AfD soll erwogen haben, ihren Landesparteitag im rund 20 Kilometer entfernten Dessau-Roßlau vorzeitig zu beenden, um Präsenz zu zeigen. Letztlich fiel die Entscheidung dagegen. Dennoch kamen innerhalb kurzer Zeit Hunderte nach Köthen, darunter auch eine erhebliche Anzahl Neonazis aus NPD, Der Rechten und der Organisation III. Weg.

Sie kamen aus weiten Teilen Deutschlands, waren angereist etwa aus Niedersachsen, Sachsen und Berlin. Die meisten entstammen der Szene der freien Kameradschaften, wie etwa Initiator Dieter Riefling, hinzu kamen Pegida-Sympathisanten. Einzelne Akteure haben aber auch einschlägige Biografien in rechten Parteien, wie Sebastian Schmidtke aus Berlin, Bundesorganisationsleiter der NPD, Christian Häger, Bundesvorsitzender der Jungen Nationalisten, oder Ingo Zimmermann aus Magdeburg, Landesvorsitzender Sachsen-Anhalt von Die Rechte. Aufrufer David Köckert aus Greiz (Thüringen) ist, nach seinem Austritt bei der NPD, nun für die Republikaner aktiv.

Auch der Neonazi David Köckert, an seinen Tätowierungen zu erkennen, hatte Rechtsextremisten zur Teilnahme aufgefordert. © Hardy Krüger

„Trauer in Wut verwandeln“

Ohne große Ankündigung, ohne Transparente und mit wenigen Fahnen startet der angebliche Trauermarsch kurz vor 19 Uhr an einer Feuerwache. Zu Beginn schreit niemand Parolen. Am Spielplatz werden Kerzen aufgestellt. Manche Teilnehmer entzünden ihre Feuerzeuge und halten sie in die Luft. In Chemnitz hatten sich Demonstranten für diesen Effekt der Taschenlampenfunktion ihrer Smartphones bedient.

Dann wird die Stimmung lauter – und aggressiver: Rädelsführer David Köckert ergreift das Wort, ruft der Menge zu: „Dies ist ein Tag der Trauer. Aber wir werden die Trauer in Wut verwandeln!“ Dafür erntet er „Wir sind das Volk“-Rufe. Dann geht es weiter mit Parolen wie „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ und „Lügenpresse“. Er hetzt gegen die „antideutsche Presse“ und Flüchtlinge. Teilnehmer bedrängen daraufhin mehrere Journalisten. Es hat wenig von der würdevollen Atmosphäre eines Trauertags.

Die Polizei allerdings, und das ist anders als in Chemnitz, hat die Lage unter Kontrolle. Gleich als die Pläne für den Marsch bekannt geworden waren, hatte sich ein Großaufgebot bereit gemacht, Unterstützung kam aus Niedersachsen und Berlin sowie von der Bundespolizei.

Dahinter steckt die Furcht, gewissermaßen symbolisch für einen üblen Akt rassistischer Hetze zu stehen. „Es ist uns wichtig, dass das Ereignis nicht instrumentalisiert wird“, betont der Köthener Pfarrer Horst Kuschner. Auch er denkt dabei an die Ausschreitungen in Chemnitz. Und spricht von einem Alptraum.

Am Nachmittag hatten Kreisoberpfarrer Lothar Scholz und Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) zur Besonnenheit gemahnt. „Ich kann nur hoffen und appellieren, dass nicht Gewalt mit Gewalt quittiert wird“, sagte Scholz.

Mit Material von dpa.