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Der kurze Weg vom Zweifler zum Neonazi

 

So wird aus Verschwörungsglauben Vernichtungswahn: Einst war Alfred S. ein Linker. Dann verfiel er kruden Theorien. Heute macht der Holocaustleugner vom Starnberger See bei München Nazipropaganda, sogar vor Gericht.

Von Sebastian Lipp

Rechtsextremismus: Mit dem HItlergruß begrüßt Alfred S. am 2. Juli 2018 seine breit grinsende Schwester im Verhandlungssaal am Landgericht München.
Mit dem Hitlergruß begrüßt Alfred S. am 2. Juli 2018 seine Schwester im Verhandlungssaal am Landgericht München. © Anne Wild

Alfred S. hebt seinen Arm zum Hitlergruß, als er seine Schwester und Mitangeklagte im Gerichtssaal am Münchner Landgericht begrüßt. Niemand greift ein. Er wirft seinen Unterstützern im Publikum einen triumphierenden Blick zu, dann senkt Alfred S. den Arm wieder. Seit der Prozess gegen ihn Anfang Juli begann, macht der 63-Jährige auf diese Weise unmissverständlich klar, wofür er heute steht.

Alfred S. war nicht immer so. Einst stand er grünen und linken Ideen nahe. Zu dem linken Intellektuellen Noam Chomsky sah er auf, bezeichnete ihn sogar als seinen Guru. Doch dann begann der Deutschkanadier, sich mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA zu beschäftigen. In wenigen Jahren wurde aus einem Zweifler ein Radikaler, aus einem ehemaligen Anhänger der Grünen ein Rechtsextremist und Holocaustleugner.

Alfred S. wuchs als eines von vier Geschwistern in Kanada auf, wohin seine Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg ausgewandert waren. Schon als junger Mann verließ Alfred S. Kanada, um die Welt zu bereisen. Als Rucksacktourist zog er einige Jahre durch Afrika und Europa. Ende der Siebzigerjahre, „nachdem ich viel unterwegs war, kam die Erkenntnis, dass ich langsam was Gescheites mit meinem Leben anfangen sollte“, sagte er vor Gericht.

Ein bürgerliches Leben

Mit Mitte 20 bewarb sich Alfred S. beim Technologiekonzern IBM in München. Er wurde eingestellt und ließ sich in Tutzing nieder. „Ich fühlte mich nicht als Deutscher. Damals ich fühlte mich als Kanadier“, sagt Alfred S. heute. Dennoch ließ er sich nach einigen Jahren einbürgern. Den kanadischen Pass behielt er. Als Elektroingenieur machte der 63-Jährige Karriere bei IBM und sagt von sich selbst, er habe sich ein ansehnliches Vermögen erwirtschaftet. Das habe ihm ermöglicht, teure Hobbys zu finanzieren. Alfred S. ist leidenschaftlicher Segler und Drachenflieger.

Ein gutbürgerliches Leben unter vielen. Doch dann kam ein Einschnitt, der mit diesem Leben eigentlich zunächst nicht viel zu tun hatte. Terroristen steuerten Flugzeuge in das World Trade Center in New York und das Verteidigungsministerium in Washington. Tausende Menschen starben. Alfred S. wollte wissen, wie es dazu kommen konnte.

„Nur Fragen“

Am Anfang habe er „nur Fragen gestellt“, sagt Alfred S. vor Gericht. Doch befriedigende Antworten will er nicht erhalten haben. Dann stieß er auf Verschwörungstheorien, die sich um den 11. September 2001 ranken. In solchen Theorien meinte Alfred S. jene Antworten zu finden, nach denen er gesucht hatte. Je mehr er sich in die Theorien vertiefte, desto mehr verengte sich alles auf eine einzige Antwort: „Es sind die Juden gewesen.“ Das wiederholt Alfred S. bis heute immer wieder.

Alfred S. deckte sich mit sogenannter Enthüllungsliteratur zum 11. September ein und versuchte, sein Umfeld von seinen Theorien zu überzeugen. Nie verließ er das Haus, ohne entsprechende Flugblätter mitzunehmen. Als Erstes zog er seine Schwester Monika in seinen Bann, die er regelmäßig in Kanada besuchte. „Monika hat es gleich begriffen und die richtigen Fragen gestellt.“ Damals engagierte sie sich in der Grünen Partei Kanadas, an deren Gründung sie beteiligt gewesen sein will, und kandidierte mehrfach für öffentliche Ämter. Nachdem sie auch innerhalb der Partei mit massiv antisemitischen Positionen auffiel, wurde ihre Mitgliedschaft beendet.

Erste Videos

Im Jahr 2014 veröffentlichte Alfred S. sein erstes Video auf YouTube. So wollte er noch mehr Menschen erreichen. In dem mehr als einstündigen Clip zeichnet er eine Verschwörungstheorie, nach der „zionistische Juden“ für die Anschläge verantwortlich seien. Zudem relativiert Alfred S. die nationalsozialistische Terrorherrschaft, indem er sie mit dem „faschistischen Polizeistaat“ Israel gleichsetzt. Allerdings scheint er sich damals noch nicht sicher gewesen zu sein, wie er das Naziregime bewerten sollte. Er habe „noch geglaubt, der Nationalsozialismus und Adolf Hitler seien böse“. So sagt er es selbst aus, so geht es auch aus dem Video hervor.

Nur ein halbes Jahr später veröffentlichte Alfred S. den nächsten Clip. Nun behauptete er, der Holocaust sei eine Erfindung „der Juden“. Im Naziduktus sprach er schon kurz darauf in einem dritten Video davon, dass „der Parasit“, also die Juden, die Menschheit „versklavt“ hätte. In weiteren Videos breitete Alfred S. seine antisemitische Weltsicht weiter aus, nach der „der Jude“ für eine allumfassende Verschwörung verantwortlich sei, um die „weiße Rasse zu vernichten“. Die Hippiebewegung, Migration, Mondlandung, Kalter Krieg, Kennedy-Mord, der 11. September – im ganzen Weltgeschehen glaubte Alfred S. ein Komplott gegen „seine Rasse“ zu erkennen.

Rasante Radikalisierung

So wurde der Verschwörungsglauben um den 11. September der sogenannten Truther-Szene für Alfred S. der Einstieg in eine rasante Radikalisierung zum Neonazi. Diese Weltsicht will Alfred S. um jeden Preis weitergeben. Zuerst zog er einen Teil seines Umfelds in seinen Bann, dann eröffneten ihm seine Videos Zugriff auf ein breiteres Publikum. Er produzierte die Clips auf Deutsch und Englisch. Später ließ er Videos mit russischen Untertiteln versehen. Auch seine Schwester trat in manchen der Videos auf und leugnete den Holocaust.

In der rechtsextremen Szene machte sich Alfred S. im Laufe der Jahre einen Namen und trat als Referent und Kundgebungsredner bei rechtsradikalen Demonstrationen auf. Zum Beispiel im vergangenen Jahr am Mahnmal des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Feld des Jammers bei Bretzenheim in Rheinland-Pfalz. Die Einrichtung war Teil der sogenannten Rheinwiesenlager, in denen die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg Kriegsgefangene untergebracht hatten.

Vernichtungswahn

Rund drei Jahre nach dem ersten Video zeigt diese Rede, dass Alfred S. nun den Vernichtungswahn der Nationalsozialisten verinnerlicht hatte. „Heute sind wir hier versammelt, um unseren Ahnen zu gedenken, um zu trauern und sie zu ehren“, begann Alfred S. seine Rede. Auch sein Vater sei in den „Todeslagern“ inhaftiert gewesen, habe aber fliehen können, bevor er nach Kanada auswanderte.

Heute, so fuhr Alfred S. fort, würden die Deutschen „mit ekelhafter Gräuelpropaganda dazu gebracht, am Boden zu kriechen“, und deutete den Zweiten Weltkrieg zum „Völkermord“ an den Deutschen um. Um „Europa zu knechten“, hätte man zuerst die Deutschen als „Herz“ der „europäischen Völker“ „auslöschen“ müssen. „Denn sie stehen dem Monster, das die Welt beherrschen will, im Wege“, sagte Alfred S. Gemeint sind wie immer „die Juden“. Dagegen beschwor er einen apokalyptischen Endkampf der „weißen Rasse“, der „auf Leben und Tod“ zu führen sei. Am Ende hob er den rechten Arm zum Hitlergruß.

Hausdurchsuchungen

Die Polizei zeichnete den Auftritt auf und übergab das Video an die Staatsanwaltschaft, die ein Verfahren wegen des Hitlergrußes einleitete. B’nai Brith Canada, eine jüdische Bürgerrechtsorganisation, entdeckte Alfred S.‘ Videos im Netz und übergab den deutschen Behörden Informationen zu den Urhebern. Alfred S. sieht darin abermals ein Beispiel für den von ihm ersonnen Komplott der Juden gegen die Welt. Die jüdische Organisation, die er als Geheimdienst bezeichnet, habe „der Staatsanwaltschaft den Befehl erteilt, mich auszuschalten“, behauptete er später.

Auch aus dem privaten Umfeld von Alfred S. gingen Anzeigen ein. Daraufhin durchsuchte die Polizei seine Wohnung und nahm die Geräte mit, mit denen der Elektrotechniker seine Videos produziert hatte. Schließlich klagte die Staatsanwaltschaft die Geschwister S. wegen Volksverhetzung und der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vor dem Landgericht München II an. Doch der notorische Holocaustleugner ließ sich nicht beirren. Er rüstete sich wieder aus und provozierte mit weiteren Onlinevideos erneut einen Polizeieinsatz.

Im Januar besuchte Monika S. ihren Bruder in Deutschland. Die Behörden nutzten die Gelegenheit und verhafteten die Kanadierin.

Drohungen gegen Richter

Die rechtsradikale Szene reagierte. In Nürnberg versammelten sich über 200 Demonstranten zu einem Solidaritätsmarsch für Monika S. und weitere teils inhaftierte Holocaustleugner – wenige Tage bevor der Gerichtsprozess gegen Alfred und Monika S. beginnen sollte. Auch Alfred S. trat dort als Redner auf. Er drohte, die Richter würden „hängen am Hals bis zum Tode, wenn sie uns hier schuldig sprechen“. Weiter sagte der Deutschkanadier, in den USA würden die Stimmen immer lauter, die sagten, dass „Zeit sei, die Juden auszurotten“.

Rechtsextremismus: Wenige Tage vor Prozessbeginn drohte S., die Richter würden „hängen am Hals bis zum Tode, wenn sie uns hier schuldig sprechen.“ (Screenshot, Youtube)
Wenige Tage vor Prozessbeginn drohte S., die Richter würden „hängen am Hals bis zum Tode, wenn sie uns hier schuldig sprechen“. (Screenshot, Youtube)

Am ersten Gerichtstag, die Richter hatten den Prozess noch nicht eröffnet, hob Alfred S. abermals zu einer solchen Rede an und zeigte den Hitlergruß. Er stilisierte sich selbst als Märtyrer, der der „Wahrheit“ ans Licht helfe, und nannte das Gericht „Inquisition“. Im Stile der Reichsbürger stellte er sich selbst „als Angehörigen des Deutschen Reiches außerhalb der Gerichtsbarkeit der BRD“ dar. Der Gerichtssaal sei für ihn eine „Bühne“, um seiner „Wahrheit“ zum Durchbruch zu verhelfen.

Mehr als vier Monate lang befasste sich das Gericht mit der Ideologie von Alfred S., hörte immer wieder stundenlange Erklärungen des Angeklagten an. Mehrfach ermahnte ihn der Richter, dass er auch im Prozess nicht berechtigt sei, weitere Straftaten zu begehen. Doch davon ließ sich Alfred S. nicht beirren und leugnete auch im Prozess immer wieder den Holocaust.

Ende Oktober fiel nun das Urteil gegen das Geschwisterpaar. Alfred S. wurde zu drei Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Weitere Verfahren laufen bereits. Seine 59-jährige Schwester hat die zehnmonatige Strafe für ihre Beteiligung an manchen der Videos in Untersuchungshaft schon abgesessen.

Ein neuer Star der radikalen Szene

„Es hat uns fast den Magen umgedreht, wenn wir diesen rassistischen und antisemitischen Äußerungen folgen mussten“, begründete der Vorsitzende Richter das noch nicht rechtskräftige Urteil. Die Angeklagten seien „vom Hass zerfressen“, ihre Propaganda sei „rassistischer Dreck“ und eine „Bedrohung für den öffentlichen Frieden“.

Doch auch wenn Alfred S. nun erst einmal ins Gefängnis muss, wird seine Propaganda weiter wirken. Denn die organisierte rechtsradikale Szene ist längst auf ihn aufmerksam geworden. Alfred S. wird vom Szeneanwalt Frank Miksch verteidigt, für seine Schwester setzte sich Rechtsanwalt Wolfram Nahrath ein. Nahrath war einst Bundesführer der verbotenen Wiking-Jugend. Mehrfach mischte sich der wegen seiner Aktivitäten als „Volkslehrer“ gekündigte Grundschullehrer Nikolai N. unter das Prozesspublikum. Er hat eine Entwicklung hinter sich, die Parallelen zu der von Alfred S. aufweist. Am Tag der Urteilsverkündung nahm schließlich auch Karl-Heinz Statzberger auf den Besucherbänken Platz. Der Münchner Neonazikader stand unter anderem wegen seiner Verwicklung in die Planung eines Sprengstoffanschlags auf die Grundsteinlegung des jüdischen Kulturzentrums in München vor Gericht.