Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Rechtsruck in der Nordkurve

 

In der Fanszene von Hannover 96 werden Neonazis toleriert, ihre Gegner von den Rängen verdrängt. Driftet die Fußballkultur nach rechts?

Von Bela Mittelstädt

Fußballkultur: Banner von Ultragruppen hängen in der Nordkurve des Hannoveraner Stadions. © privat
Banner von Ultragruppen hängen in der Nordkurve des Hannoveraner Stadions. © privat

Eigentlich hatte sich eine Gruppe von 60 Ultras am Morgen des Spiels der Erstligisten Hannover 96 und Eintracht Frankfurt zum „Geburtstagsfrühschoppen“ in einer Kneipe der Nordstadt in Hannover angemeldet. Doch Anwohnerinnen und Anwohner hatten die Wirtin gewarnt, es könnte gefährlich werden; an dem Tag Ende Februar blieb der Laden geschlossen. Stattdessen vermummten sich die Fußballfans, streiften Quarzhandschuhe über und gingen auf eine Gruppe Demonstranten los. Es flogen Flaschen und Fäuste.

Ihre Gegner waren auf Mission gegen Rechtsextremismus im Fußball, sie trugen ein Banner mit der Aufschrift „Gegen Rechte Strukturen! – Im Stadion, der Nordi und Überall“. Für die Ultras zu viel. „Als sie sich unserer Kundgebung näherten, griffen sie uns an und einige bezeichneten uns als ‚Fotzen‘ und ‚Juden'“, sagt Martin, der eigentlich anders heißt und beim Protest dabei war. Dass sich die Fans gerade im abseits vom Stadion liegenden Stadtteil Nordstadt trafen, hält er für eine gezielte Provokation in dem als links geltenden Viertel.

Antirassisten aus dem Stadion vertrieben

Mit der Verquickung von Ultras und Neonazis beschäftigt sich die Initiative Hannover Rechtsaußen. In einem Blog schlüsseln Aktivistinnen minutiös auf, warum sie in der Fanszene von Hannover 96 seit 2010 einen massiven Rechtsruck, gewalttätige Übergriffe und Toleranz für offen auftretende Neonazis wahrnehmen. Sie beobachten, „dass sich in der Fanszene von Hannover 96 vermehrt Neonazis frei bewegen können, gleichzeitig jedoch Personen ausgeschlossen werden, die sich antirassistisch positionieren“, teilt die Gruppe mit. Die Aktion in der Nordstadt ist für Martin und die Initiative ein weiterer Hinweis auf einen Drift nach rechts und eine erhöhte Gewaltbereitschaft in der Fanszene.

Diese Entwicklung machen sie maßgeblich an einer Ultragruppierung fest. Wer in der niedersächsischen Hauptstadt unterwegs ist, kommt um West Hannover kaum herum. Ihr Schriftzug ist als Graffiti im Stadtbild nicht zu übersehen. Auch in der Nordkurve des Stadions und bei Auswärtsspielen sind ihre Banner immer dabei. Auf einem Turnier der Gruppe im Juli 2018 wurden unter anderem Songs der Band Sleipnir gespielt. Sleipnir war im Juli 2017 auf dem Konzert Rock gegen Überfremdung im thüringischen Themar vor Tausenden Neonazis aufgetreten.

Ein entspanntes Klima herrscht bei Spielen in Hannover schon lange nicht mehr. Wer in der Fankurve gegen Rechtsextreme aufsteht, muss mit Gegenwehr rechnen. Mitglieder von West Hannover hätten 2018 die Rising Boys Hannover unter Gewaltandrohung aus dem Stadion vertrieben, die letzte sich als antirassistisch verstehende Ultra-Gruppierung, teilt Hannover Rechtsaußen mit.

Fußballkultur: Die Ultra-Fans versammeln sich vor den gewalttätigen Ausschreitungen in der Nordstadt von Hannover. © Hannoverrechtsaussen
Die Ultra-Fans versammeln sich vor den gewalttätigen Ausschreitungen in der Nordstadt von Hannover. © Hannoverrechtsaussen

Willkommensbanner für vorbestraften Neonazi

Mitglieder von West Hannover waren auch an einem Vorfall Ende Dezember 2018 beteiligt. Als Aktivisten Flyer verteilten, in denen sie auf einen „Rechtsruck“ aufmerksam machen wollten, kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen. Die Polizei griff ein. „Dass bereits das bloße Verteilen von Flyern zu einem Angriff führt, bestätigt nur unsere Vorwürfe, dass rechte Strukturen in der Kurve geduldet und akzeptiert werden“, heißt es von Hannover Rechtsaußen.

Anders sieht das die Fanvertretung Hannovereint: Die Gewalt im Dezember sei von den Linken ausgegangen und bei den folgenden Auseinandersetzungen „handelte sich nicht um einen Rechts-links-Konflikt, sondern um das beherzte Vorgehen des Auffangbeckens Fußball bestehend aus allen erdenklichen sozialen Schichten gegen eine politische Extreme“.

Der Vorfall – Notwehr gegen linke Krawallmacher? Martin widerspricht dieser Darstellung. „Hannovereint versucht, die Vorfälle zu entpolitisieren. Politische Auseinandersetzungen werden auf vermeintlich persönliche Konflikte reduziert.“ Dabei sei die Szene alles andere als apolitisch. Er erinnert sich an Situationen, in denen in der Nordkurve des Stadions ein Refugees-Welcome-Banner mit der Begründung, die Szene sei unpolitisch, heruntergerissen wurde. Andererseits wurde der neonazistisch auftretende und mehrfach vorbestrafte Gewalttäter Timm G. nach der Entlassung aus einer Haft mit einem Banner mit der Aufschrift „Aus dem Versteck – rein ins Geschehen … Willkommen zurück, Timm!“ begrüßt.

„Rechtsextremer Jargon“

G. war Mitglied bei der offen rechtsradikal auftretenden Hooligantruppe Royal Riot. Die Gruppe und ihre Nachfolgeorganisation VH13 hatten bereits Anfang des Jahrzehnts heftige Diskussionen über rechte Tendenzen unter Fans ausgelöst. Der öffentliche Druck wurde zu groß und die Banner der Gruppen verschwanden bis 2013 wieder aus dem Stadion. Ihre Köpfe sind geblieben – West Hannover nahm insbesondere Mitglieder von VH 13 auf. Seitdem setze sich immer mehr ein „durch und durch rechter bis rechtsextremer Jargon“ durch, sagt Martin.

In der Vereinsführung von Hannover 96 sieht man dagegen keine Probleme. Stadionchef Thorsten Meier sagte gegenüber der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ): „Es gibt keine rechten Tendenzen im Klub, das haben weder unsere Fanbeauftragten noch die Polizei festgestellt.“

NPD-Jugend bejubelt Ultra-Aktion

Tatsächlich werden Entwicklungen der jüngeren Zeit in der rechtsextremen Szene begeistert aufgenommen. Die NPD-Jugendorganisation Junge Nationalisten veröffentlichte laut der HAZ kurz nach dem Spiel gegen Eintracht Frankfurt einen Beitrag, in dem sie den Angriff auf die Demonstranten begrüßte: „Der Vorfall am vergangenen Wochenende in der Nordstadt zeigt, dass den Antifa-Spinnern viel zu lange freie Hand gelassen wurde“, hieß es in dem inzwischen gelöschten Post.

Trotz der Entwicklung in der Fanszene von Hannover 96 betont ein Vertreter von Hannover Rechtsaußen: „Wir wissen, dass es viele nennenswerte Strukturen und Gruppen gibt, die sich für eine Kurve ohne Diskriminierung einsetzen, wie zum Beispiel der Arbeitskreis 96-Fans gegen Rassismus.“ Dennoch brauche es unbedingt „einen Denk- und Reflexionsprozess“ wegen der Vorfälle im und um das Stadion.

Auch Martin wünscht sich, dass die Fangemeinschaft einmal über Gewalt und Rassismus nachdenkt. Zu Spielen seines Vereins geht er nur noch selten: „In der Kurve kann ich mich nicht mehr blicken lassen. Ich gelte dort als Nestbeschmutzer.“