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So rechtsextrem war 2019

 

Rechtsrockfestivals ziehen kaum noch Gäste an, Bürger wehren sich. Doch das Jahr 2019 hat gezeigt: Die Neonaziszene bleibt eine große Bedrohung für unsere Gesellschaft.

Bürgerinitiative in Magdeburg – Fackelmarsch mit AfD-Thesen
Teilnehmer eines Fackelmarsches ziehen im April durch Magdeburg. © Hardy Krüger

Etwas scheint zu bröckeln in der Welt der Neonazis: Rechtsrockfestivals wie im thüringischen Themar und im sächsischen Ostritz zogen noch bis vor Kurzem zuverlässig Tausende Besucher an, stifteten Zusammenhalt und Gemeinschaftssinn für die rechtsextreme Szene. In diesem Jahr fallen die Veranstaltungen deutlich kleiner aus oder ganz ins Wasser. Anwohnerinnen und Anwohner leisten Widerstand, die Szene hat Schwierigkeiten, sich zu organisieren.

Ist sie deshalb weniger gefährlich geworden? Der Anschlag auf eine Synagoge im Oktober hat gezeigt: Neonazis sind und bleiben eine Bedrohung. Hier, im Rechtsextremismus-Watchblog Störungsmelder, haben wir ihre Umtriebe aufgeschrieben. Unser Rückblick auf 2019.

Januar: Neonazis wegen Hetzjagd vor Gericht

Vor dem Landgericht Halle in Sachsen-Anhalt müssen sich ab dem 10. Januar zwei Neonazis verantworten, weil sie bei einer Demonstration Menschen brutal angegriffen haben sollen. Das Paar, ein Mann und eine Frau aus Hessen, war laut Anklage Teil einer Gruppe von Rechtsextremen, die am 1. Mai 2017 in der Stadt mit Schlagstöcken, Reizgas und einem Stück Starkstromkabel auf andere Menschen losgegangen war. Die Gruppe, die sich zur Demonstration verabredet hatte, nannte sich Aryans („Arier“). Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer vermutete in der Organisation eine Verbindung, die sich gezielt zur Gewalt verabredete. Das Urteil fällt im Februar: Wegen gefährlicher Körperverletzung erhält der Mann dreieinhalb Jahre Haft, die Frau ein Jahr und zwei Monate auf Bewährung.

Februar: Verstrickungen von AfD-Mitarbeitern werden publik

Wie nah die AfD der rechtsextremen Szene steht, ist immer wieder eine Streitfrage. Vielfach wurden Verbindungen der Partei ins Neonazimilieu nachgewiesen – so auch im Februar durch eine Recherche des Störungsmelders: Ein Mitarbeiter in der Pressestelle der Brandenburger AfD-Fraktion engagiert sich in der NPD-Nachwuchsorganisation Junge Nationalisten, ein Thüringer Politiker der Partei trat mehrfach im Namen der rassistischen Identitären Bewegung auf. Eine Woche später fordert AfD-Gründer Bernd Lucke, die Partei solle mit Rechtsextremisten in den eigenen Reihen brechen: „Grenzen Sie sie aus und fordern Sie sie auf, Ihre Partei zu verlassen“, schreibt er in einem offenen Brief.

März: Schaulaufen der rechtsextremen Szene

Letzte Ehre für einen Neonazi
Trauernde Neonazis stehen vor dem Begräbnis von Thomas Haller Spalier für den Leichenwagen. © dpa

Über 900 Neonazis treffen sich am 18. März im sächsischen Chemnitz, um einem Kameraden die letzte Ehre zu erweisen: Der rechtsextreme Hooligan Thomas Haller, gestorben mit 54 an einem Krebsleiden, wird beerdigt. Die Szene nutzt die Trauerfeier als Gelegenheit zur Demonstration. Am selben Tag beginnt in Dresden der Prozess gegen den Asylbewerber, der im Vorjahr den 35-jährigen Daniel H. erstochen hatte, was Anlass für schwere Tumulte von Rechtsextremen in Chemnitz war.

Eine knappe Woche später steigt im sächsischen Ostritz ein Neonazikonzert mit rund 400 Besucherinnen und Besuchern. Da für die Versammlung kein Alkoholverbot verhängt worden war, sind innerhalb kurzer Zeit Hunderte Gäste betrunken, die Stimmung ist aggressiv. Eine Lektion, die sich Anwohner und Behörden andernorts später zur Mahnung nehmen werden.

April: Deutsche Neonazis feiern Hitler in Italien

Der 20. April als Geburtstag Adolf Hitlers ist ein Festtag für die rechtsextreme Szene. Richtig ungestört feiert es sich aber nur jenseits der deutschen Grenzen. Und so pilgern etliche deutsche Neonazis in die norditalienische Kleinstadt Cerea, gelegen zwischen Mailand und Venedig. Dort hat die Gruppe Veneto Fronte Skinheads, die dem Netzwerk Blood and Honour nahesteht, ein Konzert mit mehreren Szenebands auf einem Messegelände organisiert. Polizeikontrollen gibt es so gut wie keine.

Neofaschismus: Hitler-Feier mit deutscher Beteiligung
Neonazis vor der Konzerthalle in Italien © Henrik Merker/Jonas Miller

Ebenfalls im April berichten wir von einer Bürgerinitiative, die in Magdeburg einen Fackelmarsch abhält und dabei Thesen der AfD aufgreift, mit denen Migranten als Verbrecher abgestempelt werden. Am 10. April durchsuchen Polizisten bei einem Schlag gegen eine kriminelle Vereinigung 30 Objekte in vier Bundesländern, vor allem im brandenburgischen Cottbus. Der Gruppe sollen rund 20 Menschen aus dem Hooligan-, Kampfsport- und Rechtsextremistenmilieu angehören. Die Ermittler finden neben Hakenkreuzdeko auch Propagandamaterial der Identitären Bewegung.

Mai: Rechtsextreme missbrauchen Tag der Arbeit

Auch der Erste Mai, der Tag der Arbeit, ist ein fester Termin im rechtsextremen Kalender und willkommene Gelegenheit für Propaganda. Bei einer Demonstration der Kleinpartei Der Dritte Weg im sächsischen Plauen inszenieren sich die Neonazis als warmherzige Kümmerer, die gespendete Kleidung verschenken – an deutsche Bedürftige. 200 Teilnehmer waren für die Kundgebung angekündigt, tatsächlich werden es um die 450. Das Motto der Veranstaltung lautet „Soziale Gerechtigkeit statt krimineller Ausländer“. Im nordrhein-westfälischen Duisburg demonstrieren rund 150 Neonazis bei einer Kundgebung der Partei die Rechte. In Erfurt tritt der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke auf – vor deutlich weniger Zuschauerinnen und Zuschauern als erwartet, aber mit gewohnt scharfer Rhetorik.

Juni: Bierverbot macht Neonazis das Leben schwer

Am 23. Juni kommen rund 700 Neonazis zum Rechtsrockfest Schild und Schwert im sächsischen Ostritz. Für die Organisatoren der jährlich stattfindenden Musikveranstaltung eine Niederlage: Im Vorjahr war es rund ein Drittel mehr. Diesmal verhängen die Behörden ein striktes Alkoholverbot. Aus Furcht vor Ausschreitungen lässt die Stadt mit Unterstützung des Technischen Hilfswerks 4.200 Liter Bier beschlagnahmen – rein rechnerisch sechs Liter pro Teilnehmer. In einem nahe gelegenen Supermarkt kaufen zudem engagierte Anwohner die Biervorräte weg, damit sich die Neonazis nicht daran betrinken können.

Eine weitere Schlappe kassiert die Szene bereits Anfang des Monats: Die NPD-Jugend JN veranstaltet den Tag der deutschen Zukunft, um ein „Signal gegen Überfremdung“ zu setzen. Die Kundgebung wird zu einem Signal der eigenen Schwäche: 270 Rechtsextreme nehmen teil, nachdem im Vorjahr noch Tausende, teilweise hochaggressive Gegner der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel durch Chemnitz gezogen waren.

Juli: Erfolgreicher Widerstand der Bürger

Polizisten beschlagnahmen Bier vom Konzertgelände in Themar. © Bodo Schackow/dpa

Immer stärker setzt sich die Erkenntnis durch: Neonazifestivals ohne Alkohol werden kaum besucht. Ein weiteres Beispiel dafür ist das sommerliche Rechtsrockfestival im thüringischen Themar. 2017 waren hier noch 6.000 Rechtsextreme aus ganz Europa angereist. 2019 kamen gerade einmal 700 Besucher. Die dürfen am ersten Tag nur Leichtbier und Radler trinken, am zweiten herrscht ein vollständiges Alkoholverbot. Eine Band beschwert sich, dass von den Besuchern im Veranstaltungszelt kaum einer in Stimmung kommt. Was für die Neonazis ein verdorbener Spaß, ist für Nazigegner ein Erfolg. Sie setzen dem braunen Treiben umfangreichen Protest entgegen.

August: Angstfaktor Bürgerwehr

Wie im Vorjahr schreibt der Störungsmelder wieder umfangreich über das Phänomen rechtsextremer Bürgerwehren, die vorgeblich für Schutz in der Öffentlichkeit sorgen, tatsächlich aber dort das Sagen haben wollen. In Essen streifen Mitglieder einer rechtsradikalen Schutztruppe durch die Straßen, wie wir im August berichten. Die Mitglieder sind bestens im Ort vernetzt. Im Februar erregte ein örtlicher Polizist Aufsehen, der mit den Rechtsradikalen auf Fotos posierte. Selbst ernannte Aufpasser lassen sich auch in vielen anderen Städten blicken, etwa in Düsseldorf.

Zu den besonders absurden Vorgängen des Jahres gehört ein Vorfall aus dem Landtagswahlkampf in Sachsen: Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) posiert auf einem Foto, bei dem im Hintergrund der Rechtsextremist Thomas Witte im Hintergrund zu sehen ist. Ein peinlicher Fehler, den die Partei schnell durch Entfernung korrigiert.

September: Prozess gegen Rechtsterrorgruppe beginnt

In Dresden müssen sich ab dem 30. September acht Männer vor Gericht verantworten, weil sie eine terroristische Gruppe gegründet haben sollen. Im Verbund mit dem Namen Revolution Chemnitz sollen sie während der Ausschreitungen in der sächsischen Stadt 2018 Menschen angegriffen haben, die sie für Migranten hielten, zudem einen Anschlag am Tag der Deutschen Einheit in Berlin geplant haben. Dafür gab es offenbar Pläne, sich zu bewaffnen, wie dem Störungsmelder vorliegende Chatprotokolle belegen. Die Angriffe in Chemnitz waren ein „Probelauf“ für Anschläge, wie einer der Angeklagten bei der Polizei in einem Teilgeständnis ausgesagt hatte, das vor Gericht eingeführt wird.

Ebenfalls vor Gericht steht im September der Rechtsextremist Henry Hafenmayer in Duisburg. Wegen Holocaustleugnung wird er zu zehn Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt – dabei hat er selbst im Gerichtssaal noch öffentlich weitergeleugnet.

Oktober: Anschlag auf Synagoge in Halle

Menschen trauern vor der Synagoge in Halle, die zum Anschlagsort geworden ist. © dpa/Hendrik Schmidt

Die Tat erschüttert nicht nur die jüdische Gemeinde in Deutschland, sondern die ganze Republik: Am 9. Oktober stürmt der mit Gewehren bewaffnete Stephan B. eine Synagoge im sachsen-anhaltischen Halle. Als er nicht in das Gebäude eindringen kann, erschießt er eine Passantin und einen Mann in einem Dönerimbiss. Er flüchtet, wird kurz darauf festgenommen. Schon bald steht fest: B. hat aus Judenhass gehandelt, die Tat übertrug er mit einer Helmkamera live ins Internet. Die Tat löst eine Welle von Solidaritätsbekundungen aus – und eine Diskussion um die Schwere von Antisemitismus in Deutschland.

Im Oktober berichten wir auch über den Schlagerstar Mickie Krause: Dieser kündigt eine Zusammenarbeit mit dem Sänger Der Hauer aus dem Erzgebirge auf, nachdem der Störungsmelder Krause auf die Verbindungen seines Duettpartners ins rechtsextreme Milieu hingewiesen hat.

November: NPD bekämpft Journalisten

Die NPD führt einen Feldzug gegen unabhängige, kritische Medien. Am 23. November ziehen rund 100 Anhänger durch Hannover, um gegen den NDR-Journalisten Julian Feldmann zu demonstrieren. Die NPD wirft ihm falsche Berichterstattung vor. Tatsächlich geht es offenkundig darum, für Einschüchterung bei Medienvertretern zu sorgen. Ebenfalls zu den Zielen der Kundgebung gehört Störungsmelder-Autor David Janzen, der zuvor in einem Bericht beschrieben hatte, wie die rechte Szene ihm zu Leibe rückt: mit Morddrohungen, Verleumdungen und Ketchup-Anschlägen auf seine Haustür. Weitere Journalisten schreiben im Dezember über ihre Erlebnisse mit Einschüchterungen von rechts.

Dezember: CDU-Politiker tritt nach Rechtsextremismuseklat zurück

Der Fall erschütterte die Politiklandschaft in Sachsen-Anhalt: Am 20. Dezember erklärte der CDU-Politiker Robert Möritz seinen Austritt aus der Partei. Rund eine Woche zuvor war bekannt geworden, dass das Vorstandsmitglied des Parteiverbands Anhalt-Bitterfeld 2011 als Ordner bei einer Neonazidemonstration aufgetreten war. Zudem trägt er eine Tätowierung mit der Schwarzen Sonne, einem Symbol aus mehreren übereinanderliegenden Hakenkreuzen. Möritz‘ Partei distanzierte sich nur zögerlich von ihrem Mitglied – was für Empörung bei ihren Koalitionspartnern SPD und Grünen sorgte. Zeitweise drohte die Regierungskoalition gar zu zerbrechen.

Ebenfalls im Dezember wurde bekannt, dass der Verfassungsschutz deutlich mehr Menschen als im Vorjahr als rechtsextrem einstuft – über 32.200 Personen. Das ist ein Drittel mehr gegenüber 2018. Aus Sicherheitskreisen heißt es, ein wesentlicher Grund für die Zunahme sei, dass der Verfassungsschutz erstmals die Angehörigen der AfD-Vereinigungen Der Flügel und Junge Alternative dem rechtsextremen Spektrum zurechnet.

Und 2020? Werden Rechtsextremisten weiterhin provozieren, Stimmung machen und angreifen. Der „Störungsmelder“ und seine Autoren werden weiter dokumentieren, was in der Szene geschieht.