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Die juristische Waffe der Neonazis

 

Die Szene wollte sie geheim halten: Gutachten gewähren erstmals umfassend Einblick in eine Strategie, auf die Neonazis für eine straffreie Verbreitung von Propaganda setzen. Damit könnte nun Schluss sein.

Von Sebastian Lipp

Propaganda: Das Urteil dürfte den Neonaziplattenproduzenten kaum beeindrucken: Während das Verfahren von über 900 Straftaten auf nur wenige Tonträger zusammenschrumpfte, setzte er über eine halbe Million Euro um. Dafür könnten nun eine Strategie der Neonazis erledigt sein.
CDs aus dem Plattenvertrieb des Angeklagten liegen im Prozess auf einem Tisch. © Sebastian Lipp

Findige Geschäftsleute aus der Neonaziszene tauschen längst nicht mehr nur Rechtsrock-Platten, Klamotten und Devotionalien aus. Auch juristisch spricht man sich ab: „Gutachten der Rechtsanwältin Pahl liegt vor“, ist etwa auf internen Bestandslisten vermerkt, wenn Szenehändler sich gegenseitig mit Propagandamaterial versorgen. Worum es geht, soll allerdings geheim bleiben: „Ganz wichtig zu den Gutachten: Nicht aus der Hand geben. Nur das Deckblatt zeigen. Nicht das, was die Pahl geschrieben hat“, wies der Chef der Propagandaschmiede Oldschool Records, Benjamin Einsiedler, telefonisch einen Kameraden an.

Das überwachte Gespräch war Gegenstand eines Prozesses, der erstmals offenlegte, wie akribisch sich die Szene vorbereitet, um Strafen zu entgehen. Im Kern geht es dabei um Schriftsätze der Hamburger Rechtsanwältin Gisa Pahl. Bislang ging die Strategie auf: So sprach das Landgericht Memmingen den Plattenproduzenten Einsiedler im Mai 2018 in zweiter Instanz unter anderem vom Vorwurf der Volksverhetzung durch die Verbreitung von rechtsextremer Musik frei. Das Gericht glaubte der Behauptung des Angeklagten, dass er im guten Glauben auf die Musik-Gutachten der Anwältin vertraut habe.

Szene-Gutachten als Freibrief?

Was die Szene zunächst als Freibrief für Nazipropaganda feiern durfte, kassierte das Oberlandesgericht München. Die Richter wiesen das Landgericht Memmingen an, das Verfahren mit einem anderen Richter neu aufzurollen und die Gutachten zu prüfen. Das taten die Memminger – und verurteilten Einsiedler wegen des Vertriebs von fünf CDs in der vergangenen Woche zu 100 Tagessätzen von je 40 Euro, also einer Gesamtgeldstrafe von 4.000 Euro.

In der Neuverhandlung gelangten die Gutachten im Januar erstmals an die Öffentlichkeit. So schrieb Anwältin Pahl zu dem Lied Geschwür am After der Band Gigi und die braunen Stadtmusikanten, in dem Titel werde zwar von Lügen bei der Geschichtsschreibung, Schienen und Eingangstoren gesprochen. „Es bleibt aber offen, welche Lügen, Schienen und Tore. Mangels irgendwelcher Hinweise ergibt sich nicht, dass mit diesen Äußerungen die KZs gemeint sein müssen.“ Daher seien die Äußerungen mehrdeutig und eine Strafbarkeit wegen Volksverhetzung liege nicht vor.

Propaganda: Der Neonazi-Plattenproduzent Benjamin Einsiedler besucht in Begleitung von Mitgliedern der Band Act of Violence (AoV) und bekannten Anhängern der Neonazikameradschaft Voice of Anger (VoA) das RechtsRock-Festival am 29. Juli 2017 in Themar. © EXIF Recherche
Neonazi-Plattenproduzent Benjamin Einsiedler 2017 auf dem Rechtsrock-Festival im thüringischen Themar © EXIF Recherche

Im Lied Goebbels für alle kann Pahl laut Gutachten ebenfalls keine Straftat erkennen. Die Zeilen „Ich war immer schon ein Fan von seinen Thesen (…) Wir bleiben Joseph Goebbels treu“ seien keine nationalsozialistische Propaganda, denn das Lied beziehe sich auf das Projekt Zeitungszeugen. Diese gedruckte Sammeledition stellt die Presselandschaft in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus dar. Der Text befasse sich mit dem Umstand, dass die Abdrucke für Diskussionen sorgten. Das Lied sei „humoristisch und ironisch“ und habe mit einer Huldigung an NS-Propagandaminister Goebbels nichts zu tun, argumentierte auch Rechtsanwalt Alexander Heinig, der Benjamin Einsiedler vor Gericht vertrat.

Nazi-Ideologie mehrdeutig verpackt

Neonazistische Händler, Musiker und Rechtsanwälte „setzen auf die doppelte Interpretierbarkeit beziehungsweise auf ein bestimmtes Maß an Vagheit der Liedtexte, um eine Strafbarkeit zu umgehen“, sagt Timo Büchner im Gespräch mit dem Störungsmelder. Der Soziologe studiert seit Jahren, wie sich die Sprache der extremen Rechten ändert. In seinem 2018 erschienen Buch Weltbürgertum statt Vaterland untersuchte er, wie der Antisemitismus im modernen Rechtsrock inzwischen verschlüsselt dargestellt wird. So hofft die Szene einerseits, nur schwer belangt zu werden – und gleichzeitig knallharte neonazistische Ideologie verbreiten zu können, die bei den Hörern dennoch ankommt.

Rechtsrock: Schlagstöcke und Nazirock – bei der Oldschool Records-Razzia 2014 sichergestellte Gegenstände (Bild: Polizei)
Schlagstöcke und Nazirock – bei der Oldschool-Records-Razzia 2014 sichergestellte Gegenstände © Polizei

Büchner weist darauf hin, dass das Album Adolf Hitler lebt neben Goebbels für alle und Geschwür am After auch „das berühmt-berüchtigte Lied Döner-Killer“ enthält – ein Bezug auf die Morde der Terrorgruppe NSU. „Denn neun sind nicht genug“, heißt es am Ende des Stücks, das vor der Selbstenttarnung des NSU veröffentlicht wurde. Das von Gisa Pahl als Koordinierungsstelle für neonazistischen Rechtsbeistand geschaffene Deutsche Rechtsbüro soll einen Spendenbrief vom NSU erhalten haben.

„Vorreiterurteil gegen rechtsextreme Liedtexte“

Für das Gericht stellte sich der Fall im zweiten Anlauf ziemlich eindeutig dar. „Die sogenannten Rechtsgutachten“ der Anwältin seien „nicht nachvollziehbar“. Das Lied Goebbels für alle enthält demnach keine ironischen Zweideutigkeiten, sondern verherrliche die Gewalt- und Willkürherrschaft der Nationalsozialisten, indem dessen zentrale Figur Joseph Goebbels bewundert und ihm die Treue geschworen wird. Mit Geschwür am After werde der industrialisierte Massenmord an den europäischen Juden als „Lüge“ geleugnet. Und auch mit der Rede von Schienen und einem Tor könne nur die Außenansicht eines KZs gemeint sein.

Für Soziologe Büchner ist die Entscheidung von „bahnbrechender Qualität“: Als „Vorreiterurteil gegen rechtsextreme Liedtexte“ könne es Szenehändler erheblich treffen. Plattenproduzent Einsiedler allerdings dürfte die 4.000 Euro Geldstrafe gut verkraften. Sein Label verzeichnet nach eigener Aussage einen Jahresumsatz von 130.000 Euro.