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AfD-Fans verunglimpfen die Toten von Hanau

 

Nach dem Anschlag von Hanau machen Anhänger der AfD Stimmung gegen die Opfer. Einen der Getöteten stempeln sie zum Islamisten ab – mit fadenscheinigen Belegen.

Von Henrik Merker

Gedenken nach dem Anschlag von Hanau © dpa/Frank Rumpenhorst

In Talkshows beteuert die AfD, mit dem Täter von Hanau habe sie nichts zu tun. Ideologische Parallelen streiten die Parteifunktionäre ab. Anders sieht die Lage in sozialen Medien aus: In einer Facebook-Gruppe namens „AfD-Fanclub“ mit knapp 3.400 Mitgliedern instrumentalisieren Anhänger den Anschlag, bei dem der rassistisch motivierte Tobias Rathjen Mitte Februar neun Menschen in Shisha-Bars ermordet und anschließend seine Mutter und sich selbst getötet hatte. In der Gruppe verbreiten sie die Behauptung, der ermordete Fervat Unvar sei ein Islamist. Unter den rechten Posts wird der Mord an Unvar beklatscht und gerechtfertigt.

Damit sind sie nicht die Einzigen: Auch die AfD-Freunde Tübingen behaupten in ihrer Telegram-Gruppe, Unvar habe auf einem Foto mit der Flagge von Al-Kaida posiert. Sie behaupten außerdem, alle in Hanau Ermordeten hätten „eine dicke Polizeiakte“, eines der Mordopfer beschimpfen sie als „Zigeunerin“. Vier der Opfer hätten von Drogenhandel gelebt, heißt es in einem Beitrag. Belege dafür fehlen. Die Anhänger illustrieren ihre Behauptungen mit Bildern von einem Facebook-Konto unter dem Namen Ferhat Unvar, das mittlerweile gelöscht ist. Die Meldung verbreitet sich derweil auf allen sozialen Netzwerken, auf Facebook wurden sie Hunderte Male geteilt und in zahlreichen AfD-nahen Gruppen veröffentlicht.

Mitteilung der AfD-Freunde Tübingen auf Telegram © Screenshot Störungsmelder

Eins der Fotos zeigt eine schwarze Flagge mit weißer arabischer Schrift, davor sitzt offenbar Ferhat Unvar und hält den rechten Zeigefinger nach oben. Auf einem anderen Bild trägt Unvar ein Palästinensertuch und hält ebenfalls den Finger hoch. In den verunglimpfenden Beiträgen heißt es, die Flagge gehöre zu Al-Kaida oder dem „Islamischen Staat“ (IS), der erhobene Zeigefinger sei der IS-Gruß.

Instrumentalisierung einer Flagge

Doch das stimmt nicht. Bei dem Schriftzug handelt es sich um das islamische Glaubensbekenntnis, die Shahada. Weil die Shahada als erste der fünf Säulen des Islam eine zentrale Rolle in der Religion einnimmt und von vielen Gruppen benutzt wird, sind kalligrafische Details wichtig für die genaue Zuordnung. Darauf verweist auch die Organisation Quilliam, die in Großbritannien Aussteiger der islamistischen Szene betreut. Das Glaubensbekenntnis ist zentraler Bestandteil der Flagge Saudi-Arabiens und syrischer Oppositionsmilizen.

Es ist somit kein originäres Symbol des IS, auch wenn die Terrororganisation und andere Islamisten das Glaubensbekenntnis seit Jahren vereinnahmen wollen. Welche Symbole der Terrororganisation zugerechnet werden, erklärte das Bundesinnenministerium bereits 2014 in der Verbotsverfügung gegen den IS. Auch Al-Kaida verwendete die Shahada – aber nicht wie auf dem Foto, sondern in gelber Schrift und mit einer stilisierten Sonne.

In der Vergangenheit nutzte auch die islamistische Vereinigung Hizb ut-Tahrir die schwarze Shahada-Flagge mit weißer Schrift als eines ihrer Erkennungszeichen. Die Gruppe ist in Deutschland seit 2004 verboten. Doch auch die von der Hizb ut-Tahrir genutzte Flagge unterscheidet sich in kalligrafischen Details. In Deutschland sind nur die Shahada-Flaggen verboten, die eindeutig einer Terrororganisation zuzuordnen sind.

Islamisten auf den Leim gegangen

Bleibt der erhobene Zeigefinger auf zwei Bildern. Der IS verwendet den gehobenen Zeigefinger als Bekenntnis, der islamistische Attentäter Anis Amri benutzte ihn. Deshalb versuchen Rechtsextreme, Ferhat Unvar mit ihm gleichzusetzen. Doch das entbehrt jeglicher Grundlage.

Das Foto Unvars wurde bereits 2014 hochgeladen – drei Jahre vor dem von Amri verübten Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin. „Von dieser fotografischen Inszenierung kann man nicht auf eine geistige Nähe zum Islamismus schließen“, sagt Christoph Günther, Islamwissenschaftler der Universität Mainz. Die Geste selbst sage nichts über die Geisteshaltung aus. „Es ist ein Bekenntnis zum Monotheismus, das keinesfalls nur von Islamisten benutzt wird.“ Der erhobene Zeigefinger ist deshalb auch kein verbotenes Symbol in Deutschland.

Dass islamistische Organisationen ursprüngliche Symbole des Islam vereinnahmen, stellt moderate Muslime derweil vor ein Rechtfertigungsproblem. In einem Fall von Dinslaken, wo ein Vorstand des Islam-Verbands Ditib und ein Jugendlicher einen medialen Skandal ausgelöst hatten, stand ebenfalls der erhobene Zeigefinger als vermeintliches IS-Bekenntnis im Mittelpunkt der Berichterstattung. Mit Reportern wollte vor Ort anschließend niemand mehr sprechen.

Unbedarfte Journalisten und rechtsextreme Gruppen machen sich die Deutungsweise von Islamisten zu eigen, wenn sie ursprüngliche Symbole des Islam mit Terrorismus in Verbindung bringen. Islamistische Gruppen profitieren von dieser Unterstützung. Tatsächlich arbeiten sich Islamisten und Neonazis einander aktiv zu. 2002 nahmen der damalige NPD-Chef Udo Voigt und der mehrfach vorbestrafte Holocaustleugner Horst Mahler an einer Konferenz der islamistischen Hizb ut-Tahrir in Berlin teil. Einig war man sich wohl im Hass auf Juden und Israel. Nur zwei Monate später wurde die islamistische Organisation in Deutschland verboten.