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Mörderjagd nach dem Ausschlussprinzip

 

Erst spät ermittelte die Polizei nach dem Mord an Walter Lübcke im rechten Milieu. Vor Gericht wird klar: Der Zufall brachte sie auf die Spur des Angeklagten Stephan E.

Von Martín Steinhagen

Ermittlungen zum Mordfall Walter Lübcke
Der Angeklagte Stephan E. wird in den Gerichtssaal geführt. © dpa/Thomas Kienzle

Als die Ermittlungen zum Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke eine Woche lang ohne Erfolg gelaufen sind, machte sich unter den Polizisten eine „gewisse Ernüchterung“ breit. So erinnert sich der Leiter der Sonderkommission Liemecke, Kriminaldirektor Daniel Muth, am Donnerstag vor dem Oberlandesgericht Frankfurt. Der Grund: Es fehlte die entscheidende Spur nach der Tat vom 1. Juni 2019, die Ermittler waren frustriert, weil „wir nicht mehr so viel hatten“. Ein erster Verdächtiger hatte eine überzeugende Erklärung, ein Motiv innerhalb der Familie schloss man inzwischen aus.

Kriminaldirektor Daniel Muth, Bart, Seitenscheitel, dunkler Anzug, ist inzwischen zum Leiter der Abteilung Staatsschutz und Terrorismusbekämpfung im hessischen Landeskriminalamt (LKA) befördert worden. Im Prozess um den Fall Lübcke schildert er, wie er damals bei den Ermittlungen vorging. Erst nach einigen Volten führten sie zu dem Rechtsextremisten Stephan E., der heute Hauptangeklagter ist und gestanden hat, Lübcke erschossen zu haben.

„Suizid, Unfall, Fremdverschulden“

Muths Methode: Hypothesen aufstellen, falsche Hypothesen schnellstmöglich ausschließen. „So bin ich aufgestellt“, sagt der 46-Jährige. Die Hypothese eines politisch motivierten Mords von rechts kam auffällig spät hinzu – obwohl der Kasseler Regierungspräsident Ende 2015 kurzzeitig bundesweit zur Hassfigur im rechten Milieu wurde. Im Internet kursierte ein Video einer Bürgerversammlung, in der sich Lübcke für die Unterbringung von Flüchtlingen stark macht. Der inzwischen neben Stephan E. angeklagte Markus H. hatte es aufgenommen und verbreitet.

Als Muth wenige Tage nach dem tödlichen Schuss die Leitung der Sonderkommission übernommen hatte, sei noch völlig unklar gewesen, was auf der Terrasse von Lübckes Haus passiert war, erinnert er sich. „Suizid, Unfall, Fremdverschulden“, all das habe noch im Raum gestanden. Es sei auch gut gewesen, anfangs offen zu bleiben, sagt er. Erst spät war in der Tatnacht überhaupt entdeckt worden, dass Lübcke an einer Schussverletzung gestorben war. Das Einschussloch hinter dem rechten Ohr fiel erst einem Polizisten im Krankenhaus auf. Bis dahin waren alle von einem medizinischen Notfall ausgegangen.

Nur wenige Beamte gingen einem rechten Motiv nach

Erschwerend kam hinzu: Die Ermittler hatten es mit einem Tatort zu tun, an dem es kaum Spuren gab, weil „die Platte geputzt war“, wie Muth es formuliert. Gereinigt mit Wurzelbürste und Felgenreiniger von einem Ersthelfer, einem Freund der Familie, der dadurch sofort in den Fokus der Polizisten geriet.

Mit seinen Mitarbeitern entwickelte Muth aber auch andere Hypothesen, um den Blick zu weiten, sagt er aus: organisierte Kriminalität, Windkraftgegner, ein Unfall. Sogar die Idee, dass Jugendliche aus der Ferne auf ein Schild feuern wollten und Lübcke aus Versehen trafen, zog man in Betracht. Ein rechtes Motiv spielte anfangs noch keine Rolle, nur einige wenige Beamte kümmerten sich um Spuren in Richtung politisch motivierte Kriminalität.

Die Ermittler befragten Familienmitglieder getrennt und schlossen dann aus, dass der Täter aus ihrem Kreis stammen könnte. Der anfangs verdächtige Sanitäter konnte sich nach einer dramatischen Festnahme an der Nordseeküste im Verhör entlasten. Dann änderte sich die Blickrichtung. Das Motiv politisch motivierte Kriminalität sei da „rein mathematisch“ wahrscheinlicher geworden, sagt Muth.

Die entscheidende Spur war ein Zufall

Einen Anschlag von Islamisten habe man mangels Bekenntnis ausgeschlossen, linke Täter zwar grundsätzlich für möglich, aber etwas anderes jetzt für wahrscheinlicher gehalten: dass „im rechten Spektrum eine Motivlage entstanden sein könnte“. Muth entschied sich laut seiner Aussage, dann einen eigenen Einsatzabschnitt damit zu beauftragen, dem nachzugehen. Die Ermittler verschafften sich einen Überblick über Neonazis in der Region, werteten Bilder von der Bürgerversammlung 2015 aus, aber offenbar ohne Erfolg.

Ob es ihnen gelungen wäre, die mutmaßlichen Täter auch so zu finden, bleibt offen. Eine Woche später, am Freitagmittag, meldete sich das Kriminaltechnische Instituts des LKA mit der entscheidenden Spur: Es gab einen DNA-Treffer. Eine winzige Hautschuppe auf dem Hemd von Walter Lübcke, das Polizisten glücklicherweise noch aus dem Krankenhausmüll sichergestellt hatten, führte in der Datenbank der Polizei zu Stephan E. Er wurde festgenommen.

Der Ermittler hat noch Fragen

An diesem Donnerstag sitzt E. als Angeklagter einige Meter von Muth entfernt, der am Verhandlungstag über mehrere Stunden Fragen zur Arbeit seiner Ermittlermannschaft beantwortet. Eine Frage hat aber auch Muth selbst noch mitgebracht. Die Soko sei noch „hochgradig daran interessiert“, wo genau Stephan E. und Markus H. die illegalen Schießübungen absolviert hätten. Außerdem wolle er gern wissen, ob er auch die Lage von angeblichen Waffendepots von H. nenne, sagt er in Richtung Stephan E.

In seinen Vernehmungen hatte der Angeklagte von beidem berichtet. Den Beamten ist es aber bislang nicht gelungen, die Orte zu finden. E.s Verteidiger teilt mit, zu den Schießplätzen wolle er sich äußern. Die Position der vermeintlichen Verstecke seines ehemaligen Kameraden will E. aber gar nicht genau kennen. Im Fall Lübcke bleiben weiter Fragen offen.