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Die Furcht vorm großen Neustart

 

Verschwörungstheoretiker schüren die Angst vor einem geplanten Wirtschaftskollaps. Der Mythos wurde in der Pandemie erdacht – dürfte aber noch deutlich länger kursieren.

Von Dominik Lenze und Bana Mahmood

Auf einer Demonstration in Wien warnt ein Banner vor dem Great Reset. © Reuters/Lisi Niesner

„Stoppt den Globalistendreck“, steht auf einem Transparent, prominent platziert am Brunnen auf dem Heldenplatz in Wien. Darüber die Schlagworte „Großer Austausch, Great Reset“. Vor dem verschwörerisch-raunenden Banner stehen Anfang Januar dicht gedrängt Demonstranten. Sie schwenken ein Meer aus Österreich-Flaggen. So zeigt es ein Video, das Rechtsextreme auf YouTube und Telegram verbreitet haben. Mitten in der österreichischen Hauptstadt verbreiten Tausende einen Verschwörungsmythos.

Die Theorie, Great Reset genannt, ist mittlerweile weit verbreitet, sie kursiert unter Reichsbürgern, Neonazis und Würdenträgern. Auch die Nachfolger der rechtsextremen Identitären Bewegung greifen sie auf. Demnach ist die Corona-Pandemie ein Vorwand, um die gesamte Weltwirtschaft zu zerstören und eine weltweite sozialistische Diktatur zu errichten. Dahinter stecke das Weltwirtschaftsforum. Dessen Direktor Klaus Schwab ist unfreiwillig zum Namensgeber des Mythos geworden: Er veröffentlichte im Sommer 2020 ein Buch mit dem Titel The Great Reset – zu Deutsch: „Der große Neustart“. Darin beschreibt er die Pandemie als Chance für einen grüneren und sozialeren Kapitalismus. Zwischenzeitlich sah sich Schwab sogar genötigt, seine Pläne öffentlich von dem Verschwörungsmythos abzugrenzen.

Alte Mythen ziehen nicht mehr

In Österreich treibt insbesondere die Bewegung Die Österreicher die Erzählung voran. Dazu gehört laut einer Website des Rechtsextremisten Jakob Gunacker auch die sogenannte Umvolkung, ein altbekannter Verschwörungsmythos der Neuen Rechten. Laut diesem Irrglauben hätten mächtige Eliten die Migration nach Europa gesteuert, um die angestammte Bevölkerung auszutauschen. Gunacker ist Kopf von Die Österreicher. Die Organisation ist im Grunde eine Neuauflage der Identitären Bewegung um Martin Sellner, bloß mit neuem Namen.

„Es ist der alte organisatorische Kern“, sagt Natascha Strobl. Die österreichische Politikwissenschaftlerin gilt als Expertin für die Identitäre Bewegung. Nachdem die Identitären ins Visier von Verfassungsschutz und Justiz geraten waren, befänden sie sich in einer „Neugründungsphase“. Dazu gehört offenbar auch das Aufgreifen neuer Erzählungen.

„Wenn so eine Pandemie dazwischenkommt, ziehen die alten Mythen nicht mehr. Es hat doch keiner mehr Angst vor einer ‘Islamisierung’“, sagt Michael Blume. Der Religionswissenschaftler und Antisemitismusbeauftragte von Baden-Württemberg hat als einer der ersten auf die Gefahr des Mythos von Great Reset hingewiesen. Er glaubt, die Erzählung könne zum Hauptmotiv der Verschwörungsgläubigen werden. Das Schlagwort „Great Reset“ sei schließlich schon vorher vielen Verschwörungsgläubigen bekannt gewesen. In Teilen der Szene ist der Mythos schon seit Sommer verbreitet worden. „Die Leute haben alle schon einmal davon gehört“, sagt Blume.

Selbst Kardinäle plappern den Mythos nach

Zudem vereint die Erzählung viele Narrative, die schon zuvor kursierten. Es gibt unterschiedliche Versionen, mit verschiedenen Schwerpunkten, je nachdem, wer erzählt. Reichsbürger Rüdiger Hoffmann zum Beispiel behauptet, durch den Great Reset wolle man die Menschen durch Künstliche Intelligenz ersetzen. Radikale Impfgegner fürchten eine „Gesundheitsdiktatur“, Verschwörungstheoretiker Attila Hildmann darüber hinaus die „Bolschewisierung“ der Erde. Der US-amerikanische Kardinal Raymond Burke sieht durch die „gottlose Agenda“ die Familie bedroht, auch andere erzkonservative Kardinäle sprachen Warnungen aus. Für Die Österreicher gehört auch die „Abschaffung aller Völker“ zum Plan.

Schon im Sommer kursierte die Angst vorm geplanten Wirtschaftskollaps am Rande der großen Querdenker-Demonstrationen in Berlin. Kurz bevor Rechtsextremisten die Treppe des Reichstags stürmten, warnte Reichsbürger Hoffmann vor dem „perfiden Plan des World Economic Forum“. Ebenfalls im Sommer verbreitete die rechte Influencerin Miriam Hope die Erzählung.

Stoff für Klimawandel-Leugner

Die Behauptung vom geplanten Wirtschaftskollaps stammt aus den USA. Bereits einen Monat nach der Veröffentlichung des Buchs von Klaus Schwab wurde auf der Website des US-Senders Fox News vor dem Great Reset gewarnt: Mit klimafreundlicher Politik drohe der Sozialismus, hieß es in einem Kommentar von Justin Haskins. Er ist redaktioneller Leiter des Heartland-Institutes, eines Thinktanks, der Falschinformationen über den Klimawandel verbreitet.

„Das Heartland-Institut ist einer der großen Player, die sich in den USA grundsätzlich gegen staatliche Regulierungen wenden, wie zum Beispiel Umwelt- oder soziale Standards“, sagt Toralf Staud, Redakteur des Wissenschaftsportals Klimafakten.de. Dafür werde der Thinktank von einigen Großunternehmen unterstützt und gefördert. Die Angst vor dem drohenden Kommunismus gehöre schon länger zum „ideologischen Baukasten” von Heartland, sagt Staud.

Wenn die Pandemie vorbei ist, lasse sich die Geschichte nahtlos weitererzählen, sagt Michael Blume. „Dann lässt sich behaupten, die ganze Covid-19-Pandemie war nur inszeniert, um die Klimadiktatur zu errichten.“ Auch Staud hält dies für möglich: „Vermutlich eignet sich kaum ein Thema so gut wie Klimapolitik, um einen angeblichen weltweiten Plan geheimer Mächte zu konstruieren.“ In Deutschland haben notorische Klimawandel-Verharmloser das Thema bereits aufgegriffen. Der Baukasten des Great Reset ist erstaunlich vielseitig.