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Polizeieinsatz wegen Inklusion

 

Wurden Rollstuhlfahrer in den 1990er Jahren noch angegafft, wenn sie durch eine Fußgängerzone fuhren, hat sich die Gesellschaft unterdessen daran gewöhnt, dass nicht alle Menschen laufend durch die Innenstädte flanieren. Das hat sicherlich damit zu tun, dass immer mehr Rollstuhlfahrer überall präsent sind. Es gibt mehr elektrische Rollstühle, die auch Menschen mit wenig Armkraft Mobilität geben. Manuelle Rollstühle sind so leicht geworden, dass es Spaß macht, sie zu nutzen und rauszugehen. Und natürlich trägt auch die zunehmende Barrierefreiheit dazu bei, dass sich mehr Rollstuhlfahrer alleine draußen bewegen können.

Polizei statt Selbstständigkeit

Dass diese Normalität nicht alle behinderten Menschen so erleben, bemerkte ich, als mir die Mutter eines 19-Jährigen halb schmunzelnd, halb genervt erzählte, ihr Sohn habe schon wieder einen Polizeieinsatz ausgelöst. Er war zum Einkaufszentrum gefahren. Ihr Sohn kann alle vier Gliedmaße aufgrund von einer Zerebralparese nur eingeschränkt steuern. Außerdem hat er eine starke Sprachbehinderung und eine leichte geistige Behinderung. Trotzdem wollen die Eltern ihm soweit wie möglich alles tun lassen, was andere in seinem Alter auch machen: Bus fahren, auf der Straße sitzen, ins nächste Einkaufszentrum fahren – und zwar alleine. Das Problem ist aber: Die Gesellschaft ist es nicht gewohnt, dass auch Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung selbstständig sind. Sie glauben oft, er habe sich verlaufen oder sogar, dass die Eltern ihn ausgesetzt haben und rufen die Polizei.

Dabei kommt er mit seinem E-Rollstuhl gut klar, findet ohne Probleme wieder nach Hause und kann auch alleine Bus fahren. Aber das entspricht nicht dem Bild, was viele von Menschen mit geistiger Behinderung haben. Einige Menschen mit Lernschwierigkeiten sind aber durchaus in der Lage, alleine durch eine Stadt zu navigieren, zumindest wenn sie die Gegend kennen oder einkaufen gehen. Im Zweifelsfall fragen sie jemanden, wenn sie Hilfe brauchen. Doch das sind die Leute (noch) nicht gewohnt. Und rufen in ihrer Hilflosigkeit die Polizei.

Nicht einmal angesprochen

Oft fragen die Eltern die Polizisten und die Passanten, die die Polizei gerufen haben, ob sie denn überhaupt mal versucht haben, mit ihm zu sprechen und ihn zu fragen, ob er Hilfe braucht. Die Antwort lautet meist „Nein“. Selbst vor dem Wohnhaus der Eltern riefen Passanten schon mal die Polizei, weil sie davon ausgegangen waren, man habe ihn ausgesetzt. Dabei sitzt er nur einfach gerne mit seinem E-Rollstuhl an der Straße. Und jedes Mal müssen sich die Eltern anhören, wie verantwortungslos es sei, einen „so schwer Behinderten“ alleine vor die Tür zu lassen. Dabei ist das, was die Eltern machen, gelebte Inklusion. Sie lassen ihn all das machen, was er kann.

Das Problem sind nur die Menschen, die damit nicht umgehen können. Weil geistig behinderte Menschen in Einrichtungen, Werkstätten, Heimen untergebracht sind und sie den direkten Umgang mit ihnen einfach nicht gewohnt sind. So wie eben früher allein das Fortbewegungsmittel Rollstuhl bei vielen Irritationen auslöste. Wenn es normal würde, dass behinderte Menschen all das, was sie auch alleine können, alleine machen, und nicht nur innerhalb der Einrichtungen, dann tritt vielleicht auch im Umgang mit geistig behinderten Menschen die Gelassenheit ein, die mit Rollstuhlfahrern ohne Sprachbehinderung oder geistiger Behinderung schon relativ verbreitet ist.