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Proteste für Barrierefreiheit und Teilhabe: Darum geht es

 

In vielen Städten Deutschlands gibt es derzeit Protestveranstaltungen behinderter Menschen: In Berlin gab es nicht nur eine der größten Demonstrationen behinderter Menschen seit Jahrzehnten, sondern auch Pfeifkonzerte vor Parteizentralen und Ministerien, und es ketteten sich sogar behinderte Menschen stundenlang in der Nähe des Bundestages fest, um für ihre Rechte zu demonstrieren. In Stuttgart wurde die Teilhabe zu Grabe getragen und auch in Hamburg und München gingen behinderte Menschen auf die Straße, begleitet von vielen Aktivitäten auch in sozialen Medien. Der Hashtag #nichtmeinGesetz ist viel genutzt derzeit. Worum geht es überhaupt?

Es geht um zwei Gesetze, die derzeit im Bundestag behandelt werden. Das eine ist das Behindertengleichstellungsgesetz. Das andere ist das Teilhabegesetz.

Das Behindertengleichstellungsgesetz

Das Behindertengleichstellungsgesetz gibt es schon seit 2002. Es verpflichtet die Behörden des Bundes zu Barrierefreiheit. Aber eben nur die Behörden des Bundes. Nun spielt sich das Leben deutscher Bundesbürger eher selten in Bundesbehörden ab, sondern in Kinos, Restaurants und im Supermarkt. Deshalb haben behinderte Menschen gefordert, auch die Privatwirtschaft zu Barrierefreiheit zu verpflichten, wo dies zumutbar wäre. Aber die Bundesregierung stellt sich stur. Zwar wurde das Gesetz reformiert, aber die Änderungen sind minimal.

Zwei Gegenanträge der Grünen und der Linken, der auf einem Gesetzentwurf des Forums behinderter Juristen beruht, wurde abgelehnt. Nur ein einziger Abgeordneter der Regierungsfraktionen enthielt sich, alle anderen CDU/CSU- sowie SPD-Abgeordneten stimmten dagegen, dass die Privatwirtschaft verpflichtet wird. Der einsame Abgeordnete, der sich enthielt, war Hubert Hüppe (CDU), Vater eines behinderten Kindes und ehemaliger behindertenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion.

Das Teilhabegesetz

Und dann geht es noch ums Teilhabegesetz. Das soll künftig regeln, wie behinderte Menschen mit Assistenz leben können. Derzeit dürfen Menschen, die umfangreiche Assistenzleistungen vom Staat finanziert bekommen, nicht mehr als 2.600 Euro sparen. Sonst bekommen sie entsprechend weniger Geld für die Assistenzleistungen. Zudem wird auch Einkommen sowie das Einkommen des Partners herangezogen. All das sollte mit dem neuen Gesetz geändert werden, erhofften sich behinderte Menschen. Nur danach sieht es derzeit nicht aus. Zwar kommen im Gesetz tolle neue Zahlen vor wie 25.000 Euro Sparvermögen und später 50.000 Euro, aber sind behinderte Menschen auf Persönliche Assistenz angewiesen, erhalten sie zumeist Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege. Doch nur die Eingliederungshilfe wird aus dem Sozialhilferecht herausgelöst, die Hilfe zur Pflege und die Blindenhilfe bleiben Sozialhilfe. Das bedeutet, dass eventuelle Verbesserungen in der Eingliederungshilfe diesen Betroffenen rein gar nichts bringen und sie weiterhin nur 2.600 Euro ansparen dürfen. Das Gesetz ist also eine Mogelpackung.

Und für manche wird das Gesetz sogar Verschlechterungen bringen: Bisher galt der Grundsatz „ambulant vor stationär“. Zu Hause zu wohnen hatte immer Vorrang vor der Heimunterbringung. Das soll sich jetzt ändern, sodass das Wohnen in den eigenen vier Wänden künftig nur dann „erlaubt“ wird, wenn es günstiger ist oder ein Leben im Heim unzumutbar wäre.

Auch wer Anspruch auf Assistenz hat, ändert das Gesetz: Um Hilfen zu erhalten, muss man laut dem Entwurf in fünf von neun Lebensbereichen eingeschränkt sein. Wer beispielsweise aufgrund einer Sehbehinderung Hilfe zur Mobilität und beim Lesen benötigt, ist nicht behindert genug, um Eingliederungshilfe beanspruchen zu können. Auch hör- oder sprachbehinderte Menschen sollen nur dann Hilfen zur Kommunikation erhalten, wenn das aus „besonderem Anlass“ nötig ist. Sich mit Freunden oder Bekannten verständigen – unwichtig.

Dieser Gesetzentwurf und die aktuelle rechtliche Lage empört unterdessen nicht nur behinderte Menschen, sondern auch Arbeitgeber. Die Firma Airbus hat einen Film veröffentlicht, der zeigt, wie die Gesetzeslage einen ihrer Mitarbeiter, den Diplom-Physiker Harry Hieb, einschränkt.

Airbus würde seinem langjährigen Mitarbeiter gerne eine Bonuszahlung zukommen lassen – so wie jedem anderen nicht behinderten Mitarbeiter auch, mit dem das Unternehmen zufrieden ist –, aber das Geld würde der Staat einkassieren, der Airbus-Mitarbeiter würde davon nichts haben. Stattdessen müsse das Unternehmen auf „warme Worte“ zurückgreifen, will es den Mitarbeiter belohnen, sagt sein Vorgesetzter.

Auch wenn das Behindertengleichstellungsgesetz vergangene Woche verabschiedet wurde, der Kampf um das Teilhabegesetz geht weiter. Es kann nicht sein, dass sich Deutschland 2016 nicht nur gegen Barrierefreiheit entscheidet, sondern auch noch weiterhin behinderte Menschen arm hält.