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Alle sind für Selbstbestimmung – nur kosten darf es nichts

 

Für die meisten Menschen ist es eine Selbstverständlichkeit, dort zu leben, wo sie möchten. Für behinderte Menschen ist das nicht so. Dirk Bergen aus Freiburg kämpfte 15 Jahre lang dafür, endlich das Heim verlassen zu dürfen. Er ist rund um die Uhr auf Unterstützung angewiesen. Mittlerweile lebt er trotzdem seit Jahrzehnten in den eigenen vier Wänden.

Ab ins Heim!

Assistenten unterstützen ihn bei sozialen Aktivitäten genauso wie bei der Körperpflege oder beim Zubereiten der Mahlzeiten. Bezahlt werden sie vom örtlichen Sozialamt. Doch nun will die Stadt Freiburg die Assistenten nicht mehr bezahlen und hat Dirk Bergen aufgefordert, sich einen geeigneten Heimplatz zu suchen. Aber Dirk Bergen möchte nicht ins Heim. Er hat lange darum gekämpft, selbstbestimmt leben zu können und jetzt, im Alter, möchte man ihm das wieder nehmen. Seit seine Lebensgefährtin gestorben ist, sind die Kosten für die Assistenz angestiegen. Deshalb hat die Stadt die Zahlungen bis Februar 2017 befristet.

Dirk Bergen hat viele Heime in der Region angeschrieben und sie gebeten, ihm mitzuteilen, ob sie seinen Bedürfnissen gerecht werden können. Einhellige Antwort, sofern er überhaupt eine Antwort bekam: Nein, das könne man nicht leisten. Denn Dirk Bergen ist auch mit über 70 noch aktiv, hat Freunde und Bekannte, schreibt E-Mails und geht gerne zu kulturellen Veranstaltungen. Für all das braucht er aber Assistenz und das können die Heime nicht leisten. Von Dirk Bergen würde erwartet, seine sozialen Kontakte zu minimieren, keine E-Mails mehr zu schreiben und einfach nur noch versorgt zu werden. Selbstbestimmung sieht anders aus.

Gleiche Wahlmöglichkeiten

Seit Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, dürfte es die Aufforderung der Stadt, sich einen Heimplatz zu suchen, nicht mehr geben, wenn der Betroffene das nicht will. Die UN-Behindertenrechtskonvention schützt behinderte Menschen eigentlich davor, ins Heim abgeschoben zu werden. Sie gibt behinderten Menschen unmissverständlich das Recht, „mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben“. Es wird konkret erwähnt, dass Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben.

Auch Politiker bestätigen das immer wieder. Es sei nicht im Sinne des Gesetzgebers. Die Realität sieht aber anders aus. Kostenträger versuchen immer wieder, Menschen mit hohem Assistenzbedarf auch gegen ihren Willen ins Heim zu schicken, um Geld zu sparen.

Vergangene Woche hat der Bundestag das neue Teilhabegesetz beschlossen. Doch Bergen glaubt nicht daran, dass dadurch sein Streit mit dem Sozialamt beendet wird. Die Politik betont zwar, mit dem Gesetz werde die UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt, die Rechte auf ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen in der eigenen Wohnung werden aber recht schwammig formuliert und geben den Kostenträgern wieder Spielraum.

Bergen will dennoch weiterkämpfen und sich notfalls durch alle Distanzen klagen bis hoch zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. „Ich geh nicht mehr ins Heim. Eher höre ich auf zu essen“, sagt er. Im Dezember soll ein Gespräch mit den Verantwortlichen der Stadt Freiburg stattfinden. Bleibt zu hoffen, dass diese sich vor dem Termin Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention noch einmal ganz genau ansehen.

Update 8. Dezember: Herr Bergen hat mir mitgeteilt, dass die Stadt Freiburg vorerst eingelenkt hat. Er kommt in keine Pflegeeinrichtung, da dies nicht zumutbar sei. Für die lange Dauer des Verfahrens hat man sich entschuldigt. Allerdings möchte man überprüfen, wie man Kosten bei seiner Assistenz senken kann. Zudem gibt es weitere Fälle behinderter Menschen in Freiburg und anderswo, die Angst um die Finanzierung ihrer Assistenz haben.