Mouse On Mars und Sid Le Rock machen elektronische Musik und wildern bei Rock und Techno. Auf ihren neuen Platten „Varcharz“ und „Keep It Simple, Stupid“ erforschen sie ganz verschiedene Bereiche des Genres, trotzdem gehören sie zusammen – wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Tagsüber suchen mich Mouse On Mars heim. Seit einem Jahrzehnt leuchten sie mit hellen Scheinwerfern die dunklen Ecken der Elektronik aus. Diesmal stehen dort – hoppla – alte Rockgitarren neben den Rechnern.
Mouse On Mars kommen aus Düsseldorf und sind kompliziert: Für jede intellektuelle Spielerei sind sie zu haben, ihre Musik geht nie den direkten Weg, ihre Alben und Stücke tragen erklärungsbedürftige Namen. Ihr Klang ist greifbar und rhythmusorientiert, gleichzeitig durchzogen von Brüchen und Uneindeutigkeiten. Zum Nebenbeihören ist das nichts.
Der Albumtitel Varcharz, heißt es im Waschzettel zur Platte, bedeute „Wortschatz“. Ein Schelm, wer zuerst an „War-Charts“ dachte. Ähnlich mehrdeutig wirkt die Musik: Rhythmen kommen einem entgegen. Kaum schwingt man die Hüften im Takt, scheint alles zusammenzubrechen, von überallher kommen Dissonanzen, Brüche, Pausen, Klangflächen. Nur wer weitertanzt, merkt, dass der Takt nie ganz weg war.
Keine zehn Sekunden halten Mouse On Mars eine Idee durch. Man höre sich nur einmal das erste Stück des Albums an, Chartnok. Es beginnt mit Klängen von Kinderspielzeug, sofort fahren hektische Breakbeats dazwischen, Hämmer scheppern auf Eisen. Eben wundert man sich noch darüber, dass der Synthesizer mit lächerlich viel Hall belegt ist, da läuft plötzlich alles rückwärts. Ein gitarrenähnlicher Klang brazelt dazwischen und lässt Boxen und Rippenfelle erzittern. Oder Düül: Ist das ein quietschendes Bett, was den Rhythmus vorgibt? Billigste Synthesizerorgeln pinseln kitschige Klangfarben an eine Metallgitarrenwand. Denen ist wohl nichts peinlich. Fantastisch!
Die Nacht dann gehört Sid Le Rock. Keep It Simple, Stupid ist sein zweites Album, und der Titel zeigt, wo es langgeht: geradeaus. Fast schon dreist in Richtung Club kalkuliert nehmen seine Klänge den kürzesten Weg von der Magengrube ins Tanzbein. Tiefe Basstöne geben hypnotische Rhythmen vor, auf die er poppige Melodien pflanzt.
Auch Sid Le Rock baut in seine Stücke harzige Gitarrenklänge ein. Sie klingen so künstlich und verzerrt, dass sie eigentlich echt sein müssen. Rock’n’Roll Parking Lot basiert auf einem blechernen Gitarrenmuster, das minutenlang durchgehalten wird. Trois Pistole drängt voran, als untermalte es eine stundenlange Verfolgungsfahrt entlang kalifornischer Strände. Sid Le Rock kann auch weniger laut und kreischig: Naked vibriert seelenvoll, im Hintergrund stöhnt einer „Baby, Baby, Baby, Baby, Baby, Baby, Baby …“, das karg instrumentierte Stück extrahiert die Essenz des Soul.
Die Mittel von Mouse On Mars und Sid Le Rock sind gar nicht so verschieden: tiefe Basstöne, verzerrte Gitarren, Hall und billige Elektroklänge. Aber im Herangehen unterscheiden sie sich deutlich: Wo Mouse On Mars noch nachdenken, ist Sid Le Rock längst am Ziel. Wo Sid Le Rock den Wohlklang sucht, haben Mouse On Mars ihn längst gefunden und sezieren ihn bereits. Wo Sid Le Rock den Bass pünktlich auf die Eins legt, halten Mouse On Mars einen halben Takt inne und behalten ihn dann doch für sich, erst mal. Wo Mouse On Mars synkopisch stottern und Breakbeats einstreuen, legt Sid Le Rock eine dezente Spur zu samtenem Soul und eine weniger dezente zu hemmungsloser Partylaune.
Will man einfach nur tanzen, ist Sid Le Rock eine gute Wahl. Wer dabei gerne nachdenkt und die Herausforderung sucht, ist mit Mouse On Mars gut beraten. Wer sich nicht gerne auf den Schwitzboden begibt, der wird Sid Le Rock hassen. Am besten hat man beide Platten.
„Varcharz“ von Mouse On Mars ist als CD erschienen bei Ipecac und als limitierte LP bei Sonig; „Keep It Simple, Stupid“ von Sid Le Rock ist als CD erschienen bei Ladomat 2000.
Hören Sie hier „Düül“ von Mouse On Mars und „Es scheppert wie Def Leppard“ von Sid Le Rock
…
Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
Early Day Miners: „Deserter“ (Secretly Canadian 2006)
Can: „Tago Mago“ (Spoon Records 1971)
Cursive: „Happy Hollow“ (Saddle Creek 2006)
Sport: „Aufstieg und Fall der Gruppe Sport“ (Strange Ways 2006)
Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (Eigenverlag 2005)
Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik