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Mut zum Ekel

 

„Völkerball“ ist eine Reise in die phallisch-morbiden Abgründe des männlichen Daseins. Wie üblich hämmern sich Rammstein auf der Live-DVD augenzwinkernd durch ein stumpfsinniges Gewitter aus Licht und Feuer

Rammstein Voelkerball

Wenn Sänger Till Lindemann auf die Bühne tritt, dann beginnt ein Schauspiel. In volkstümlichen Lederhosen marschiert er auf und ab, die Kampfstiefel kniehoch geschnürt. Sein Gesicht ist schmierig grau, seine Lippen und Augen schwarz geschminkt. Dann spuckt er ein paar Zähne aus und fängt zu singen an. Die Gesten sind groß, die Mimik überzeichnet – wie in alten Stummfilmen. Er spielt den Irren, den Roboter, den Soldaten. Reißt die Augen und den Mund auf, ohrfeigt sich selbst oder schmiegt sich Trost suchend an die schmale Schulter des Keyboarders.

Auf der DVD Völkerball mit Aufnahmen aus Nîmes, London, Tokio und Moskau kann man sehen, wie Rammstein Menschenmassen bewegen: Mit Schweiß, Feuer, Blut, einem Metallgewitter aus Licht und Pyroshow und deutschem Gesang mit rollendem R. Ihre Lieder sind brachial, die Melodien simpel, die Texte behandeln oft Tabuthemen. Ihre bombastische Selbstinszenierung lebt von Morbidität, martialischer Männlichkeit, Pathos und Elementen der faschistischen Gewaltästhetik. Die einprägsame Plattheit ist das Geheimnis ihres Erfolges.

Schon das slowenische Künstlerprojekt Laibach rollte in den frühen achtziger Jahren das R düster. Die Krupps aus Düsseldorf und später Oomph! aus Wolfsburg verbanden harte Düsternis mit metallastigen Gitarren, elektronischen Klängen und provokanten deutschen Texten. Rammstein machten aus diesen Nischenphänomen der Gothic-Szene massenkompatible Popkultur. 1995 waren sie Vorgruppe von Projekt Pitchfork, kurze Zeit später nahm der Regisseur David Lynch zwei Stücke von ihnen als Filmmusik zu Lost Highway. International wurden sie erfolgreich, weil sie so „deutsch“ sind.

Ein Rammstein-Album zu hören, verschafft Unbehagen. Schuld daran sind eher die grässlichen Texte als die Musik. Rammsteins Augenzwinkern kann nur funktionieren, wenn man sie sieht. Die persiflierenden Nuancen ihres teutonischen Auftretens gehen unter, wenn man sie nur hört. Männerhorden, die das Lied Rein, Raus singen und den gebrochenen martialischen Männerkult von Rammstein nicht spiegeln, sind unerträglich. Überhaupt sind es die Massen der Fans, die bei Rammstein das Beängstigende ausmachen. Sie singen alle Texte mit, sind verzückt, rasen, tanzen. Wenn die Menschen in der Arena von Nîmes zu dem Marschlied Links 2 3 4 und Ich will gleichzeitig den rechten Arm zum „bösen“ Metaller-Gruß heben (der Zeigefinger und kleine Finger bilden die Teufelshörner), muss das dem halbwegs abgeklärten Betrachter eine Gänsehaut verschaffen. Wer hätte gedacht, dass Franzosen, Engländer, Japaner, Russen so gut deutsche Lieder singen können?

Langweilig wird einem beim Zusehen nicht, rund 100 Leute arbeiten daran, dass bei Rammstein-Konzerten Stroboskop, Pyrotechnik und Lichtshow zeitlich perfekt auf die Musikstücke abgestimmt den Auftritt zu einem Spektakel machen. Je mehr Feuer verpulvert wird, desto mehr sieht man von den durchtrainierten schweißigen Oberköpern der sechs Herren: Till Lindemann als Hauptdarsteller, Richard Z. Kruspe und Paul Landers an den Gitarren, Oliver Riedel am Bass und Christoph Schneider am Schlagzeug sind die Harten, Keyboarder Christian Lorenz spielt als schlaksiger Komiker mit Brille und Sturzhelm den Gegenpol. Mal macht er einen stokeligen Schuhplattler, mal muss er im dampfenden Riesen-Kochtopf sitzen und von da aus das Keyboard bedienen, bis ihn der Sänger in blutverschmutzter Schürze und Kochmütze mit einem Messer und einem Flammenwerfer aus dem Topf jagt. Mein Teil heißt das Stück und besingt kannibalistische Geschmacksverirrungen. Mut zum Ekel: Lindemann läuft das Blut aus dem Mund, während er den brennenden Keyboarder verfolgt. Frauen kommen bei Rammstein lediglich als Engelschor zum Einsatz oder dürfen als spärlich bekleidete Tänzerinnen zu Moscow Special vor 7000 russischen Fans ihre Hüften wiegen und singen.

Ob die sechs Musiker wissen, was sie da tun, bleibt unklar. Es sind vermutlich Kumpels, die einfach machen wollten, was ihnen Spaß macht, und festgestellt haben, dass man damit viel Geld verdienen kann. In der Dokumentation Anakonda im Netz von Mathilde Bonnefoy sagt der Gitarrist Kruspe: „Das sind so viele Spielereien, die man macht, weil man denkt, dass sie gut aussehen oder dass man irgendwie cool ist. Wahrscheinlich ist das völlig lächerlich.“ Und Till Lindemann: „Ich mag das nicht, wenn ich angeguckt werde, ich vermeide das. Ich suche mir so’n Punkt hinten, meistens den Mann vom Mischpult.“

„Völkerball“ von Rammstein besteht aus CD und DVD und ist in drei Versionen erhältlich bei Universal

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Der nächste Tonträger erscheint am 3. Januar 2007