Tokio Hotel wirbeln Hormone und Geschlechterstereotypen durcheinander. Mädchenherzen schlagen höher, und die Jungs sind eifersüchtig, weil der Sänger Bill Kaulitz so gut bei den Altersgenossinnen ankommt.
Neulich in der U-Bahn: drei Mädchen in Hüftjeans, elf oder zwölf Jahre alt. Die eine hört Musik über ihren MP3-Player und sagt: „Ich kann schon jedes Lied auswendig, die neue Tokio Hotel ist soo geil, ich hör sie immer voll laut!“ Die anderen nicken zustimmend und wollen über den zweiten Ohrstöpsel mithören.
Können Horden weiblicher Fans irren? Ein Blick in die Fachpresse zeigt: Tokio Hotel aus Magdeburg sind schwer angesagt. Es gibt Poster, Aufkleber, Postkarten und noch mehr Poster in der Bravo, der Popcorn und anderen bunten Blättchen. Stets im Mittelpunkt steht der androgyne Sänger Bill Kaulitz, mittlerweile schon siebzehn Jahre alt. Seine Augen sind dunkel geschminkt, seine Fingernägel schwarz lackiert, sein Stil ist punkig und angegruftet.
„Dann lieber aussterben – Vier gute Gründe gegen Kinder“, titelte das Satire-Magazin Titanic mit einem Bild von Tokio Hotel, nachdem der Band mit dem Kitschlied Durch den Monsun im Sommer 2005 der Durchbruch gelungen war. Auf den Ohrwurm folgten ein millionenfach verkauftes Album und viele, viele ausverkaufte Konzerte. Bill Kaulitz und sein Zwillingsbruder Tom – der mit den langen Dreadlocks – waren damals 15 Jahre alt, der Schlagzeuger Gustav Schäfer 16 und de Bassist Georg Listing 17. Posieren konnten sie schon wie die Großen, auch wenn sie in Interviews altersentsprechend kicherten und herumalberten.
Im Beiheft zum neuen Album Zimmer 483 werden Tokio-Hotel-Trägerhemdchen mit Spitze beworben, die passenden Klingeltöne kann man gleich mitbestellen. Jungsklamotten gibt es nicht, denn männliche Teenies finden Tokio Hotel „krass schwul“. Sie sind wohl eifersüchtig und irritiert, weil der Sänger Bill Kaulitz mit seinen zarten Gesichtszügen so gut bei den Mädels ankommt. Sein Äußeres ist ein Gegenentwurf zu den Gangsta- und Macho-Posen von Bushido und Konsorten, es wird als Provokation wahrgenommen. Dass Männer (auch jenseits der Adoleszenz) zumeist angewidert auf androgynes Zurechtmachen reagieren, ist ein Phänomen, mit dem die Gothic-Szene schon lange zu kämpfen hat.
Tokio Hotel machen allerdings keine Gothic- oder Punk-Musik, sondern Teenie-Poprock mit vielen schmusigen Jammerrefrains. Das lässt die Mädchenherzen trommeln. Auf Konzerten kreischen sie und fallen reihenweise in Ohnmacht. Warum bloß? Zur Zeit von Elvis rüttelte der Rock’n’Roll noch an den Kellertüren, hinter denen man die weibliche Sexualität versteckt und weggesperrt hatte. Aber heute? Vermutlich ist die Sexualität junger Mädchen im Hier und Jetzt auf eine andere Weise eingezwängt, oder das Kreischen ist einfach zu einer Tradition geworden. „Schrei! – bis du du selbst bist, schrei so laut du kannst!“, sangen Tokio Hotel auf ihrem Debütalbum und fassten den jugendlichen Drang auszubrechen in eingängige Zeilen. Höhepunkt des aktuellen Albums ist nun das Stück Ich brech aus.
Die Band lebt vom süßen Zauber der Jugend, und natürlich ziehen im Hintergrund Erwachsene die Fäden. Das macht die Musik professionell und zahm. Nur an wenigen Stellen blitzen wütende Gitarren mit hämmerndem Schlagzeug hervor. Sie lassen hoffen, dass Gustavs Exploited-T-Shirt und Bills Nieten keine leeren Versprechen sind.
„Zimmer 483“ von Tokio Hotel ist erschienen bei Universal
Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Ich brech aus“
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