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Verlieren ist nicht sexy

 

Tocotronic erzählen auf „Kapitulation“ vom Scheitern. Sie haben ihr Konzept ernst genommen und schnoddern eine Platte hin, die so langweilig ist, dass sie kaum jemanden vom Hocker reißen wird.

Wer über Musik schreibt, ist immer auch Fan. In manchen Fällen ist er Fan dessen, worüber er schreibt. Tocotronic lernte ich kennen, als ihr Album Digital Ist Besser 1995 in den Jahreslisten vieler Musikmagazine weit oben stand. „Welch ein Titel!“, dachte ich, „aber ich interessiere mich nicht für Techno.“ Später sah ich die CD im Laden. Mit diesem verwackelten Polaroid vorne drauf, das war mir klar, machen die niemals Technomusik. Zum Fan wurde ich erst, als ich mir die Platte sehr oft angehört hatte.

Es hat mir lange Zeit große Freude bereitet, Tocotronic bei ihren Abgrenzungsversuchen zu beobachten. Wie sie immer bemüht waren, Erwartungen nicht zu erfüllen. In Interviews hofft man auf druckreifes Schlagwortgeplapper, den Fragenden wird es meist verweigert. Rezensenten neigen zur Überinterpretation und finden auf ihrer philosophischen Spurensuche einen ganzen Haufen semantischer Querverweise in von Lowtzows Texten. Bei der letzten Platte Pure Vernunft Darf Niemals Siegen erkannten plötzlich alle den Einfluss Theodor W. Adornos. Diesmal erfreut man sich, begriffen zu haben, dass hinter den Stücken des Albums ein Konzept steht. Wahnsinn.

Dem Fan in mir fällt es schwer, die bereits verkündeten Superlative zum neuen Album von Tocotronic zu wiederholen. Kapitulation langweilt mich. Manchmal geht es mir sogar auf die Nerven, das gilt für die Musik und die Texte.

Das eigentlich Spannende an dieser Platte ist die Rezeption derer, die – mit exklusiven Vorabkopien ausgestattet – herunterbeten, wie originell das Konzept der Platte ist. Manche tun das auch ohne Vorab-Exemplar. Das Verhältnis zwischen schreibender Zunft und Band erscheint fetischistisch, teilweise masochistisch. Die Tocotronic’schen Vokabeln kapitulieren, verlieren und aufgeben werden immer wieder mit sexy, cool und lustvoll übersetzt. Ganz so, als warteten wir alle lange schon auf jemanden, der uns erklärt, warum das Verlieren eigentlich viel besser ist als das Gewinnen. Verlieren, der neue Trend?

Immer wieder denke ich beim Hören an Franz Beckenbauer. „Ja, ist denn heut‘ schon Weihnachten“ heißt bei Tocotronic „Kommt alle mit zu mir nach Hause“, „Schaumermal“ übersetzen sie mit „Mehr ist mehr“, „Du musst nie wieder in die Schule gehen“ ist die Verweigerungsversion von „Ja, bin ich schon drin?“ Das war Boris Becker. Aber ist das besser?

Über viele Textzeilen kann ich nur den Kopf schütteln. „Dein Schlecht ist mein Schlecht, dein Schlimm ist mein Schlimm, dein Schlimm ist mein ganz Schlimm“, „Es sind die Qualen, die mich quälen“, „Ja, ich habe heute nichts gemacht, ja, meine Arbeit ist vollbracht“. Schon immer produzierten Tocotronic solche Satzfetzen für den Smalltalk unter Akademikern. „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ und „Gitarrenhändler, ich verachte euch“, das sind oft gehörte Textzeilen. Studentenparty, ick hör dir trapsen. „Und jetzt weiter im Text, neue Fehler warten, Steine liegen auf dem Weg, ich leg sie rüber in den Garten“. Das Versmaß stimmt, der Reim auch. Immerhin.

Musikalisch waren sie schon weiter. Kapitulation sei rauer geworden als die vorangegangenen Platten, heißt es. Und – natürlich – reifer, erwachsener, direkter, tätärätätä. In meinen Ohren klingt es einfallsloser als das letzte Album und als das vorletzte Album Tocotronic allemal. Beim Gitarrenlauf von Verschwör‘ Dich Gegen Dich muss ich sogar an Heinz Rudolf Kunze denken. So simple und platte Akkorde gab es bei Tocotronic noch nie zuvor.

Nun, das Meiste ist selbstverständlich besser als alles, was Herr Kunze je in ein Mikrofon spielte. Aber für Tocotronic ist das eben nicht gut genug. Oder halten sie ihr Konzept des Scheiterns einfach nur konsequent durch und rotzen eine Platte hin, die nie und nimmer irgendjemanden vom Hocker reißen wird? Und ich bin drauf reingefallen?

Diesmal haben Tocotronic meine Erwartung nicht erfüllt, geschieht mir ja recht. Aber: Ich freue mich für jeden, der das Album mag.

„Kapitulation“ von Tocotronic ist als CD erschienen bei Universal, als LP bei Buback

Thomas Groß mag die Platte. Hier lesen Sie seine Meinung »

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