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Ein schwarzer Amerikaner in Paris

 
Im selbstgewählten Exil schreit David Murray den Blues heraus, sein Saxofon ist die Tonspur des Unrechts. Und Cassandra Wilson singt dazu.

David Murray Sacred Ground

In diesem Jahr wurde beim Sundance Film Festival der afro-amerikanische Regisseur Marco Williams für seinen Dokumentarfilm Banished ausgezeichnet. Er war tief in den Süden der USA gereist, nach Missouri und Arkansas, und hatte dort weiße Gegenden besucht, Pierce City, Harrison oder Forsyth County. Sie entstanden in der Zeit von 1890 bis 1930, zwischen Bürgerkrieg und Großer Depression. Tausende schwarzer Familien mussten ihre Häuser verlassen und fliehen. „Geh oder stirb“ war das Motto dieser Vertreibung.

Der Saxofonist David Murray hatte die Musik zu diesem Film komponiert. Er blieb am Thema und bat den afro-amerikanischen Dichter Ishmael Reed um zwei Liedtexte für Cassandra Wilson, die aus dem Süden stammt und schon in der preisgekrönten Komposition Blood On The Fields von Wynton Marsalis die Hauptpartie gesungen hat. Auf einem Youtube-Videoclip ist zu sehen, wie sie ins Studio kommt und den Song am Klavier probiert. Ein anderes Video zeigt sie bei der Aufnahme. Es gibt auch eine Clip mit Ishmael Reed, der den Text spricht, begleitet von David Murray am Klavier.

David Murray war zwanzig, als er 1975 nach New York kam. Er spielte in der New Yorker Loftszene mit Cecil Taylor und Anthony Braxton und ging zwei Jahre später in Europa auf Tournee. 1978 machte er seine ersten Aufnahmen für das italienische Black Saint Label und gründete das Black Saint Quartet. In dieser Besetzung hat er jetzt das Album Sacred Ground aufgenommen, mit dem jungen Pianisten Lafayette Gilchrist an der Stelle des verstorbenen John Hicks.

Das Cover zeigt Murray mit seiner Bassklarinette. Aus seinem Rücken wachsen Wurzeln, die sich in der dunklen Erde verankern. Auf der Suche nach dem schwarzen Erbe, das ihn zuletzt bis zu den westindischen Inseln und in den Senegal geführt hatte, ist er jetzt zu seinen afro-amerikanischen Wurzeln zurückgekehrt: zum Blues als der Tonspur von Leid und Vertreibung.

David Murray lebt in Paris. Zu seinen seltenen Auftritten in New York kommt ein schwarzes Publikum, sehr unüblich für Jazzkonzerte in den Uptown Clubs von Manhattan. Man schätzt es, wie soziales Engagement und das Erbe des Jazz in seiner Musik mitschwingen.

Bei allem Geschichtsbewusstsein möchte Murray doch die Zeit nicht zurückdrehen. Der Jazz von gestern kann nicht der von heute oder morgen sein, das sieht er anders als mancher Weggefährte. Die Behauptung des Saxofonisten Wynton Marsalis, Murray könne gar nicht spielen, hat ihn trotz seiner mehr als zweihundert Aufnahmen getroffen.

Auf Sacred Ground spielt er wirbelnde Töne. Blueshaltig und klangmächtig, mit multiphonen Schreien und Überblasungen, an Coleman Hawkins, Ben Webster und Pharoah Sanders erinnernd. Wie besessen klingt Murrays Klage über das Leiden, das Unrecht, die Ohnmacht. Eine Linie, die sich fortsetzt bis zu ihm, bis heute.

„Sacred Ground“ von David Murray und Cassandra Wilson ist bei Sunny Moon erschienen.

David Murray auf Tour in Deutschland:
09. 11. 2007 Jazzforum, Bayreuth
11. 11. 2007 Festival Jazz-Transfer, Saarbrücken
14. 11. 2007 Stadthalle, Dinslaken
15. 11. 2007 NDR Studios, Hamburg
16. 11. 2007 NDR Studios, Hamburg
17. 11. 2007 Radialsystem, Berlin
18. 11. 2007 Sendesaal Radio Bremen

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