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Menschlicher Dampfkochtopf

 

„Jim“ heißt das dritte Album des Engländers Jamie Lidell. Es wirkt so ehrlich und handgemacht, als stamme es aus analoger Zeit. Seine Stimme hat Soul, und die Musik klingt wie… Ja, wie eigentlich?

Jamie Lidell Jim

Jamie Lidell – was macht der für Musik? Schwer zu sagen in einem Wort.

Nennen wir es Soul.
Ach, wie Erykah Badu? Nein.
Nennen wir es R’n’B.
Wie Mariah Carey? Nein.
Nennen wir es Funk.
Wie Bootsy Collins? Nein.
Nennen wir es Elektropop.
Wie 2Raumwohnung? Nein!

Es hilft alles nichts. Über Jamie Lidell muss man ein paar Worte mehr sagen.

Wie wär’s mit Retro-Soul-Gospel-Folk-Funk-Avantgarde-Rock-Pop? Das klingt griffig, da fühlt sich jeder angesprochen. Doch im Ernst, es gibt heute unzählige Genres und Subgenres. Orientierung bieten sie nur noch den Jugendlichen, die nicht wissen, wie sie sich kleiden sollen. Setzen wir voraus, die Leser dieser Rezension entscheiden selbst, wieviel Stoff ihre Beine und welche Musik ihre Ohren umspielt und nehmen Abstand von herkömmlichen Genre-Begrenzungen.

Vertrauen wir nicht den Begriffen, vertrauen wir den Menschen, vertrauen wir Jamie Lidell. Der 34-jährige Engländer hat gerade sein drittes Soloalbum veröffentlicht. Jim heißt es, wie der frohgemute Teil seiner multiplen Persönlichkeit. Und es klingt so ehrlich und handgemacht, als stamme es aus analoger Zeit.

„Ich wollte einen Bogen von der Musik der fünfziger bis Ende der siebziger Jahre spannen“, sagt Lidell im Interview. „Die Achtziger und Neunziger habe ich ausgelassen, weil ich lange genug in Berlin gelebt habe. Da wird man zugeschüttet mit solchen Sounds.“

Er beherrscht auch die digitalen Spielarten, hat mit Matthew Herbert gearbeitet und im Duett mit Cristian Vogel als Super_Collider Elektrokrach aufgenommen. Auf seinem zweiten Album Multiply, das im Jahr 2005 erschien, mischte er alten Soul mit aktuellen Klängen und Schnitten. Jim nun rauscht durch die Dekaden, stellt Rock’n’Roll, Hillbillyfunk und Country-Balladen nebeneinander. Seine Soul-Stimme verbindet die verschiedenen Stile zu einem Gesamtwerk.

Jamie Lidell kann laut und leise, doch immer schlagen die Funken, es bratzelt vor Energie. Wer ihn einmal im Konzert erlebt hat, dem offenbart sich eine andere Welt. „Straight out of nothing into a hurricane“, singt er ganz treffend, und so fühlt sich auch seine Musik an. Wir hören Schellenkränze, Orgeln, feines Geplucker, Glockenspiel, Gitarren, Schlagzeug und viel Hintergrundchor.
Mit einer Die-Welt-ist-so-aufregend-ich-muss-euch-davon-erzählen-Geste springt Jamie Lidell vor die Band. Das Gewöhnliche lässt er links liegen. Liebe, Schmerz und Schönheit sind Impressionen, er muss sie nicht beim Namen nennen.

In der sonnigen Nummer Green Light stellt er fest: „It’s only a trick, if you make it a trick. It’s only a good thing, if you make it a good thing.“ Man verschaffe sich freie Fahrt ins Leben, dann fügten sich die Dinge. Aber nicht immer ist alles lässig. Bisweilen steht Jamie Lidell unter großer Anspannung. Er sei ein menschlicher Druckkochtopf kurz vor der Explosion, schreit er in Get This Out Of My System. Dampf ablassen, die Musik ist ein Ventil.

Was auch immer da rauskommt, es pfeift warm, melodiös und kraftvoll. Drücken wir beide Augen zu und nennen es Soul, der Stimme wegen. Eigentlich ist es einfach nur Pop. Ach, wie Madonna und Robbie Williams? Nein!

„Jim“ von Jamie Lidell ist erschienen bei Warp Records/Rough Trade.

Wir trafen Jamie Lidell und seine Ichs in Hamburg. Hier geht’s zur Bildergalerie »

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