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Lasst uns trotzdem tanzen!

 

Eine neue Anthologie jiddischer Musik im Nachkriegsdeutschland wühlt tief in der Geschichte, tief im deutschen Gewissen. Dabei sind viele dieser Lieder große Fetenhits.

Der in Berlin lebende Daniel Kahn und seine Band Painted Bird nennen ihre Musik Verfremdungsklezmer (© Oriente)

„Tsen Brider sejnen wir gewesen / hobn mir gehandelt mit lajn (Leinen)/ ejner is fun uns gestorbn / senen mir geblieben najn.“ Einer Bruder nach dem anderen stirbt bei immer neuen Handelsbemühungen, bis der Ich-Erzähler singt: „Ejn bruder bin ich mir gewesen / hob ich mir gehandelt mit licht / schterbn tu ich jeden tog / wajl zu esn hob ich nicht.“

Ein Klagelied ökonomisch marginalisierter jüdischer Kleinhändler, ganz klar. Auch, weil der Refrain mit dem Wehschrei „Oj!“ beginnt. Aber was ist das? So geht es weiter: „Schmerel mit dem Fidele / Tewje mit’n bas / schpiltssche mir a Lidele / oifn mit’n Gass“. Das „Oj“ wird zum rhythmischen „Ojojojojoj“. Die Welt ist schlecht, wir sind am Verhungern – lomir ale danzn! Lasst uns alle tanzen!

Wie dieses Abe Ellstein zugeschriebene Lied birgt die jiddische Musik der osteuropäischen Juden die Diskriminierung in sich. Den fahrenden Musikanten, den Klezmorim, war in der Ukraine lange das Spielen lauter Instrumente verboten. Die berühmte Klezmer-Klarinette bekam ihren Stammplatz in den Kapellen erst, als dieses Verbot aufgehoben wurde. Auch Anleihen aus Musik und Sprache der Roma zeugen von der Außenseiterrolle: Oft reisten jiddische Musiker mit Roma-Lăutari und wurden wie diese von Nichtjuden ebenso wie von frommen Juden gering geschätzt.

Sol Sajn. Jiddische Musik in Deutschland und ihre Einflüsse (1953-2009) heißt eine ebenso große wie großartige Anthologie, die just bei Bear Family erschienen ist. In der Einleitung zum ersten der vier 3-CD-Sets umreißen die Editoren Alan Bern, Heiko Lehmann und Bertram Nickolay ihr Themenfeld, das ein Minenfeld sein kann: Zu „von deutschen Nichtjuden gespielter jiddischer Musik“ gebe es Meinungen vom Verbot („erinnert an das Dogma, Blues dürfe nur von Schwarzen gespielt werden“) und dem Vorwurf der „Nekrophilie“ bis zu dem „philosemitischer Schwärmerei“.

Nicht nur in Deutschland entstand im jüdischen Musikleben nach dem so schrecklichen Massenmord eine Pause. Auch in den USA und anderen Zufluchtsländern begann die Beschäftigung so recht erst wieder in der Folkbewegung der sechziger Jahre und schwappte dann zurück nach Europa, hier treffend repräsentiert durch Aufnahmen Pete Seeger von der Berliner Schaubühne 1967.

Die beiden ersten westdeutschen Alben mit jiddischer Musik, beide von Peter Rohland, erschienen nicht zufällig 1968. Es war ein wesentlicher Impetus der Revolte, den Eltern die Maske des „Wir haben von nichts gewusst“ herunterzureißen. Ein Weg war es, das reiche jüdische Kulturleben abzubilden: Das alles habt ihr vernichtet – und wollt es nicht einmal gemerkt haben?

Der politische Folk auf Burg Waldeck, linke Liedermacher und Ensembles wie Walter Moßmann und Zupfgeigenhansel belebten jiddische Musik wieder. Dabei halfen Überlebende wie Esther Bejarano, die im Mädchenorchester von Auschwitz gespielt hatte, Emigranten, Musiker aus Nachbarländern (sogar Karel Gott) und die nicht völlig verschüttete jüdische Kultur der DDR. Die allerdings stand nach dem israelischen Sechs-Tage-Krieg unter pauschalem Zioniusmusverdacht und kämpfte gegen Auftrittsverbote.

In den neunziger Jahren boomte Klezmer. Bands wie The Klezmatics urbanisierten die Shtetl-Musik, und seit den Workshops von Giora Feidman gerann die schluchzende Klarinette manchem Musiker zum Klischee. Deshalb ist die letzte der zwölf CDs in dieser Sammlung die interessanteste, betitelt: „Naye yidishe khvalye / Neue jiddische Welle: Klezmer ist tot! Lang lebe Klezmer!“: Klezmerton und jiddischer Rap, Jazz-, Punk-, Pop- und Elektronikelemente frischen die alte Musik auf.

Wer sich nur das vierte der 3-CD-Sets zulegt, verzichtet allerdings auf das Abbild des Krakauer Shtetls, das die Box-Rücken nebeneinander im Regal zeigen. Die Ausstattung der Anthologie ist auch sonst üppig: ausführliche, informative und bebilderte Booklets, CDs im Gewand von Originalcovern, Liedtexte – diese aber nur, leider, in der deutschen Übersetzung: Um den jiddischen neben den deutschen Text zu stellen, reichte der Platz dann wohl doch nicht mehr.

Experten werden den einen oder anderen Meilenstein vermissen, etwa Aleksander Kulisiewicz mit der Umdichtung von Tsen Brider aus dem KZ Sachsenhausen zum Jüdischen Todestango. Die Herausgeber erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und räumen ein, dass sie lizenzrechtliche Einschränkungen zu beachten hatten.

Auch so findet sich unter den 249 Aufnahmen eine überbordende Fülle großartiger Musikerlebnisse. Zum Beispiel das Partisanenlied Schtill, di Nacht iz ojsgeschternt, das CD 1 gleich in drei Fassungen – Pete Seeger, Hein & Oss, Walter Moßmann – hintereinander stellt. Oder eben die vielen Songs, die wie das unter anderem von Zupfgeigenhansel aufgenommene Tsen Brider mit düsterem Humor und doch leichtfüßig über die Missstände des Lebens hinwegtanzen.

Wie bei kaum einer anderen Musik muss man zum Verständnis jiddischer Musik auch ihre historische und ökonomische Basis heranziehen. Trotzdem ist sie viel mehr als die Summe dieser materiellen Bedingungen, nämlich tieftraurige, himmelhochjauchzende oder erzböse-satirische, oft jedenfalls großartige Musik.

„Sol Sajn – Jiddische Musik in Deutschland und ihre Einflüsse (1953-2009)“ ist in vier Boxen mit je drei CDs bei Bear Family erschienen.