Über die Jahre (61): Der Rock von Motorpsycho klingt noch heute originell. Ihr Album „Timothy’s Monster“ von 1994 ist jetzt in einer unveröffentlichten Zusammenstellung neu erschienen.
Selten hat man die Möglichkeit zu vergleichen: Was wäre wenn? Wie hätte dieses oder jenes Album geklungen, wenn nicht… Ja, was eigentlich? Wann und wie wird Mittelmäßiges zum Geniestreich? Und weshalb?
Die Norweger Motorpsycho veröffentlichten vor vielen, vielen Jahren ein Album, das alle Formate sprengte. Ihren Anhängern klingeln noch heute die Ohren, wenn Timothy’s Monster spielt. Es erschien als Doppel-CD und Dreifach-LP – welche Hardrockband hatte das zuvor gewagt? Unfassbar, dass die damals mittezwanzigjährigen Musiker in der Lage waren, den ganzen Raum zu füllen, einen hundertminütigen Spannungsbogen aufzubauen, voller Tempo- und Stimmungswechsel. Fesselnd vom Anfang bis zum Ende.
Nun ist Timothy’s Monster erneut erschienen, in einer kleinen Kiste: Das ursprüngliche Doppelalbum wurde ergänzt um eine CD mit Kuriositäten und eine, auf der die Urfassung des Albums nachzuhören ist. So hätte das Album geklungen, wäre es im Sommer 1994 erschienen. Tat es aber nicht, welches Glück.
Die Geschichte geht so: Kaum hatten sie das dritte Bandalbum im Kasten, gingen Motorpsycho auf Tour – und schließlich nocheinmal ins Studio. Sie warfen drei Lieder von der bereits fertigen Platte, bauten fünf neue ein, räumten noch ein bisschen um. Und plötzlich war Timothy vom Bettvorleger zum Monster geworden. Wie es dazu kam, wissen auch die Beteiligten nur ungefähr: „Es fühlte sich so an, als gehörten die neuen Lieder auf das Album“, schreibt der Musiker Bent Sæther in dem Heftchen, dass der CD beiliegt.
Wirklich, viel hatten Motorpsycho ja nicht getan. Und doch hatten sie alles verändert. Statt des überhitzen Rockers Leave It Like That stand nun Feel am Anfang, von Bent Sæther allein eingespielt, im Frühling 1994, höchst wahrscheinlich in der Besenkammer. Er drischt auf die Akustikgitarre ein, lässt sein Mellotron-Keyboard jammern und singt sein heiseres Lied: „It feels so good to feel again.“ Die gedroschene Akustische wird zum Markenzeichen, auch die Heiserkeit und das traurige Instrument.
Und nun fügen sich auch die Lieder ein, die im ersten Entwurf noch knatschten. War Trapdoor zuvor ein Fremdkörper, so ist es nun der logische Lückenschluss zwischen dem neuen und dem alten Eröffnungstitel. Da klingen Klavier und Banjo – und dennoch rauscht es einem schließlich in den Ohren. Auch Watersound glänzt erst jetzt, prominent wabernd am Schluss der ersten CD.
Hatte die erste Fassung einen gelenken Körper, so pumpen auf der zweiten drei Herzen den Takt. Erst Feel, dann der unverschämte Popsong Wearing Yr Smell – und schließlich auf der zweiten CD das endlose The Wheel. Auf einem betörenden Basslauf kriecht das Lied heran, in Zeitlupe, verschwommen, schraubt sich immer weiter in die Höhe, explodiert schließlich und taumelt immer weiter, weiter, weiter.
Fette Basshummeln brummen über die ganze Platte, die es mit dem uniformierten Radiorock unserer Tage leicht aufnehmen kann. Da hatte eine Band ihre Sprache gefunden, und die klingt noch heute originell: harter Rock, hier und da zerfahren von scheinbar fremden Klängen und den Geräuschattacken des Halbmitglieds Deathprod. Das Laute direkt neben dem Leisen, das Brachiale neben der Sanftmut.
Timothy fremdelte im Plattenregal, kein Wunder. Rechts der Wüstenrock, links der Grunge, eine ganz und gar wesensfremde Art. Näher standen Motorpsycho doch eigentlich dem übellaunigen Gebrumme Motörheads und den unerhörten Melodien Hüsker Düs. Ende des Jahres 1994 erschien das Album schließlich beim eigens dafür gegründeten Label Stickman in Nürnberg. Viel Umlaut.
Das umlaute Timothy’s Monster machte Motorpsycho zu dem, was sie heute sind: Die einzige Band der Welt, die gleichzeitig nach den Beach Boys und nach Black Sabbath klingen kann. Nun zu hören, welche Entwicklung sie über den Sommer 1994 nahm, lässt das Album weiter wachsen. Und mag es auch der einzige Zweck sein, den diese Zugabe zur Wiederveröffentlichung hat – es ist Zweck genug.
„Timothy’s Monster“ von Motorpsycho ist 2010 in einer hübschen Kiste bei Stickman/Indigo erschienen.