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Hübsche Schwestern, hübsche Lieder

 

Sind The Pierces schlichtweg peinlich oder doch verehrenswert? Unser Autor ergreift Partei: Er ist hingerissen von den beiden Amerikanerinnen und ihrem süßen Folkpop.

© Neil Krug

Ich bin frisch verliebt. Das Problem ist nur: Alle meine Freunde finden die Neue doof, peinlich und völlig untragbar. Es ist mir deshalb ein bisschen unangenehm, mich mit ihr zu zeigen. Sicher: Sie ist vielleicht ein bisschen zu niedlich und auch ziemlich schlicht gestrickt. Aber meine Freunde wollen nicht verstehen, dass mit ihr immer die Sonne scheint. Liebe sollte man nicht rechtfertigen müssen.

Zudem schwärmen meine Freunde gerade selber so benebelt, dass man an ihrem Verstand zweifeln möchte. Auch sie sind nämlich ziemlich verschossen und kriegen sich gar nicht mehr ein, wenn sie von ihrer neuen Liebschaft erzählen. Ich kann allerdings beim besten Willen nicht verstehen, was an meinen Pierces so schlimm und an deren Boy so großartig sein soll.

Nicht falsch verstehen. Mutual Friends von Boy ist wundervoll. Ein Album voller Hits. Großartige Melodien. Nichts falsch dran, absolut nichts, was Valeska Steiner aus Zürich und Sonja Glass aus Hamburg da aufgenommen haben. Aber: Ich verstehe nicht, warum dieselben Menschen, die eben noch Boy zur bewusstseinsverändernden Erfahrung erklärten,
im nächsten Moment sehr überzeugend meinen können, dass Catherine Pierce, ihre ältere Schwester Allison und deren neues Album You & I für den demnächst stattfindenden Untergang des Abendlandes verantwortlich sein werden.

Denn die musikalischen Unterschiede zwischen beiden Duos sind marginal: Das Klangbild von Boy stützt sich vornehmlich aufs Klavier, das der Pierces auf Gitarren. Das Ergebnis ist aber dasselbe: harmloser Wohlklang, der sich auf die allerbesten Klischees aus der Geschichte der Popmusik stützt, die unsere vier Frauen finden konnten. Der kleinste gemeinsame Nenner ist Folk. Boy klingen vielleicht etwas englischer, The Pierces dagegen ziemlich eindeutig nach dem West-Coast-Hippie-Sound der späten sechziger Jahre.

Das ist kein Wunder, denn die Eltern der beiden waren ein paar Jahre zu spät gekommene Blumenkinder aus Alabama, die mit ihren Töchtern durch die USA zogen, sie selbst unterrichteten und ansonsten auf eine Diät aus Joni Mitchell und Simon & Garfunkel setzten. Die Folgen sind unüberhörbar, aber ganz sicherlich wunderschön. Ich befürchte, ab und zu wurden auch The Mamas & The Papas aufgelegt, denn ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, welchen Song von denen die Pierce-Schwestern kopiert haben, um auf Kissing You Goodbye zu stoßen, es ist mir aber auch herzlich egal. Schöner ist nur noch You’ll Be Mine, nämlich der perfekteste Popsong, den dieses Jahr nicht verdient hatte. War zum Glück bereits im März als Single erschienen, sonst hätte man diesen beschissenen Sommer gar nicht ertragen können.

Meine Freunde finden The Pierces trotzdem doof. Sie murmeln irgendwas von „läuft sogar bei RTL“. Dann regen sie sich auf, dass der Videoclip zu You’ll Be Mine ja gar nicht ginge. Tatsächlich tanzen Catherine, Allison und ein paar Freundinnen in indianischen Wallekleidern, mit Federn und Bändern im Haar, durch das Spätsommerlicht, als würde der Sommer der Liebe gerade eben erst zuende gehen. Ich habe beschlossen, den Kalender zu ignorieren und die Inszenierung als ironische Abrechnung mit den eigenen Eltern zu interpretieren. Außerdem sieht’s gut aus. Ich bin schließlich verliebt.

„You & I“ von The Pierces ist erschienen bei Polydor/Universal.