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Wenn die Synthies leise seufzen

 

„Drive“ war der Motor: Italo Disco ist wieder in aller Ohren. Jetzt bekommen auch die Chromatics aus Oregon die Aufmerksamkeit, die sie sich in zehn Jahren verdient haben.

© Italians Do It Better

Kopfkino – so lässt sich dieses Album am ehesten auf den Punkt bringen. Und das liegt nicht nur an der Spieldauer von mehr als neunzig Minuten. Wie ein meisterhafter Neo-Noir-Film entführt Chromatics‘ viertes Studioalbum Kill for Love in eine traumverlorene Welt. Das amerikanische Quartett entwirft Klanglandschaften und Atmosphären in einer ganz eigenen Synthese aus Vergangenheit und Zukunft, retrogradem Italo Disco und futuristischem Synthiepop.

Infolge ihres filmischen Ansatzes ist es kein Zufall, dass die Band aus Oregon im vergangenen Jahr mit ihrem pulsierenden Stück Tick Of The Clock zum Action-Drama Drive auf sich aufmerksam gemacht hat. Der Soundtrack zu Nicolas Winding Refns viel gepriesenem Film um einen mysteriösen Stuntfahrer (Ryan Gosling) hat große Resonanz gefunden und den Chromatics im zehnten Jahr ihres Bestehens die längst verdiente Anerkennung beschert.

Schon der erste Track – ein Cover von Neil Youngs Hey Hey, My My (Into the Black) – ist überwältigend schön. „It’s better to burn out / Than to fade away„, singt Ruth Radelet mit viel Hall auf der Stimme die letzten Zeilen aus Kurt Cobains Abschiedsbrief. Im Titelstück brechen sich die Synthesizer am Trommelfell und der Beat klopft wie die Herzen frisch Verliebter. Die für Italo Disco typischen Handclaps geben den Rhythmus vor, der Gesang schwebt darüber. Und im Hintergrund verebbt das kosmische Rauschen.

Wenn dieses so unverschämt coole Album eine Schwäche hat, dann ist es höchstens seine Perfektion. Fünf Jahre haben Johnny Jewel und Kollegen daran herumgefeilt. Es ist minimalistisch und opulent, warm und unterkühlt zugleich. „The screen stayed flashing in my mind„, singt eine männliche Auto-Tune-Stimme im Refrain von These Streets Will Never Look The Same. Dazu epische Klavierakkorde und eine abgedämpfte Gitarre, die fast neun Minuten lang denselben Akkord spielt.

Ein Song wirkt wie der Soundtrack zu einem Mondflug, einer wie eine nächtliche Jamsession im Grand Canyon. Anderswo tickt eine Uhr mit Zeigern aus Eiszapfen, dazu eine Bassdrum, die klingt, als hätte man sie von einem Sprungturm ins Wasser geworfen.

Das fabelhafte Running From The Sun könnte auch in Justin Vernons Kopf entstanden sein: seufzende Synthies, tropische Tierstimmen, ein Klavier, das an Cyndi Laupers Time After Time erinnert.

Die Stücke lassen sich alle Zeit der Welt. Radioformate, Songstrukturen – wen kümmert das? Dieses Album genügt sich selbst als Bezugsgröße. Vierzehn Minuten dauert allein das instrumentale No Escape: Ein unterschwelliger Bass schiebt sich durch interstellare Wolken und schwarze Löcher, Giorgio Moroder trifft auf György Ligeti. Hinter jedem Universum wartet bereits das nächste.

Obgleich der ästhetische Einfluss etwa eines John Carpenters unverkennbar ist, klingt das meiste verblüffend originär. Klavierschleifen, ein Beat, der im Zwischenhirn entsteht. Bedrohlich flackert die Neonreklame über der Tür zu dieser düsteren Disco. Wer aus ihr heraustritt, hat ein geheimnisvolles Leuchten in den Augen. „Come on in / And give me your hand„, lädt Radelet ihre Hörer in die Tanzbar ein. Bei solch einem wunderbaren Album: Nichts lieber als das.

„Kill For Love“ von Chromatics erscheint bei Italians Do It Better/Alive.