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Geflügelter König der Spinner

 

Ja, ja, ja, ja, Chilly Gonzales ist der Größte! Acht Jahre nach seinem prägendem Album „Solo Piano“ greift das selbsternannte Musikgenie die Form der Klavierminiatur wieder auf.

© Alexander Isard

Was für ein Typ. Produziert Grammy-Alben für Feist, arbeitet mit Peaches und Mocky, schreibt einen Soundtrack für einen Apple-Spot und Klaviersätze für Daft Punk. Bricht den Guinness-Weltrekord im Solo-Dauerkonzertieren mit mehr als 27 Stunden auf der Bühne, liefert sich Klavierduelle mit Andrew W. K. und Helge Schneider. Rappt seltsame Texte zu Elektrobeats und manchmal Sinfonieorchesterbegleitung. Und hat jetzt sein zweites Album mit reinen Klavierstücken vorgelegt, schlicht Solo Piano II betitelt.

Jason Charles Beck heißt der Mann, kommt aus Kanada, ist aber in den Neunzigern nach Berlin gezogen, weil er sich in Europa ein aufnahmefreudigeres Publikum für seine schrägen Sachen erhoffte und auch fand, und lebt derzeit in Paris. Meistens nennt er sich Chilly Gonzales.

Klavier also. Kein Saloongeklimper oder Boogiegewoogie, sondern Abteilung Bechstein, Bösendorfer, Steinway und Co. Elfenbein, Ebenholz und die Finger eines 40-Jährigen, der in Montreal klassisches Klavier studiert und mal als Jazzpianist angefangen hat, bevor der Pop ihn holte.

Aber auch keine selbstverliebten Keith-Jarrett-Monumentalmeditationen. 14 Miniaturen mit Titeln wie Wintermezzo, Epigram in E oder Nero’s Nocturne. Aufgenommen an zehn Dezembertagen in Paris. Teils vertrackt, meist humorvoll, spielerisch und doch tiefsinnig. Es ist, als wäre Erik Satie ins 21. Jahrhundert gereist, hätte bei Philip Glass und Steve Reich mal kurz vorbeigeschaut, sich aber rasch gelangweilt und in die nächste Jazzkellerkneipe verzogen.

Dann lieh sich Chilly Gonzales ein Klavier von John Cage, entfernte all die Fremdkörper zwischen den Saiten und sitzt nun vor der Tastatur wie ein manischer Bastler in seiner Werkstatt, umgeben von den Schrotthalden der Musikgeschichte, aus denen er sein Rohmaterial klaubt: Aus den Trümmern von Myriaden von Melodien – volkstümlichen, klassischen, popularmusikalischen – schraubt er seine Songs zusammen.

Einige Passagen passen in ihrer verträumten Klangfülle in das Musikzimmer eines Herrenhauses in Québec mit grandiosem Landschaftsblick, andere entführen in intimere Stimmungen wie die melancholischen Repetitionen in Othello. Die Tonleitern in Escher plätschern wie die Wasserfälle in einem der unmöglichen Bilder des gleichnamigen Grafikers. Elegien wie Minor Fantasy und Redeaux Lunaires setzen Ruhepunkte.

Wenn Gonzales mit seinem Programm Piano Talk Show als musikkabarettistischer Dampfplauderer auftritt, bezeichnet er sich als gequältes, größenwahnsinniges musikalisches Genie. Dem ZEITmagazin sagte er, man könne „ehrgeizig und gleichzeitig künstlerisch kompromisslos sein“. Das mag stimmen: Gonzales‘ erste Sammlung von Soloklavier-Stücken von 2004 ist sein bislang erfolgreichstes Album. Es gibt einen Markt für Spinnereien.

Aber Gonzales will nicht einfach den Leuten geben, was sie wollen, sagt er der Zeitung Scotsman: „Dann wirst du ein zynischer Musiker. Aber als Purist bist du auch zum Scheitern verdammt. Also ist die Zwischenlösung, du gibst den Leuten etwas, von dem sie nicht wussten, dass sie es wollten.“ Unterm Strich, sagt er, stehe dies: „Ich will ein Mensch meiner Zeit sein.“ Und das in der instrumentalen Königsklasse, am Flügel – kein schlechter Anspruch.

„Solo Piano II“ von Chilly Gonzales erscheint bei Gentel Threat/Indigo.