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Subsonisch fett, lunatisch hell

 

Akustikfunk? Kammermusiktantra? Intensität ohne Worte: Der Schweizer Pianist Nik Bärtsch schart vier Samurai um sich und dringt mit ihnen vor ins Gelände der Entrückung.

© Martin Möll/ECM

Dunkel schälen sich Nik Bärtsch und seine Männer aus dem Schatten der Bühne. Sie reden nicht. Sie spielen weder ohrenbetäubend laut noch rasend schnell. Jeder im Saal soll alles hören können, die tausend Nuancen ihrer wortlosen Kunst, die alle Instrumente wie nebenher aus den repetitiven rhythmischen Mustern entwerfen. Konzertflügel, Bassklarinette, Bassgitarre, Schlagzeug, Perkussion – subsonisch fett, lunatisch hell.

Sie nennen sich Ronin, nach jenem japanischen Typus des Einzelkämpfers, der verzweifelt Anschluss sucht und nie findet. Diese fünf Samurai aus der Schweiz haben immerhin einander gefunden. Ihr Selbst ordnen sie bedingungslos der Gruppe unter. Diszipliniert dringen sie in das Gelände der Entrückung vor. Aber pssssst! Nie etwas anmerken lassen. Nicht jauchzen. Keine jazztypischen Soli. Jazz eh nicht.

Ihre Melodien sind so bewegt wie ein Bogenschütze vor dem Loslassen. Unsere Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Und wir dürfen rätseln: Ist das komponiert, interpretiert, improvisiert? Ist das akustischer Funk, handgemachte Elektronika, kammermusikalisches Tantra? Und ist das nicht eigentlich auch ganz egal bei so viel Kraft und Lust?

Ronin aus Zürich sind seit einem Jahrzehnt in nur leicht schwankender Besetzung unterwegs. Mit dem Schlagzeuger Kaspar Rast spiele er seit seinem elften Lebensjahr zusammen, sagt der Pianist Nik Bärtsch, jetzt 41; so wurzelt die erstaunliche Intensität der Musik auch in geo-biografischer Tiefe.

Als viertes Ronin-Album beim Münchner Feinkost-Label ECM ist dieser Tage eine Live-Doppel-CD erschienen, die schon deshalb recht ungewöhnlich ist, weil sie nicht die Dramaturgie eines gelungenen Abends dokumentiert, sondern neun Mitschnitte aus acht verschiedenen Städten. Von Lörrach geht es über Leipzig, Wien, Tokio, Amsterdam, Mannheim und das englische Gateshead bis nach Salzau bei Kiel. Hier treten die Dunkelmänner also ins Licht der Welt und lassen sich feiern.

Module nennt Bärtsch seine über die Zeit immer komplexer gewordenen Kompositionen. Sie heißen Modul 55, Modul 17 oder Modul 22. Wie spröde und technisch! Und wie widersprüchlich, denn das Konzept der Reduktion stößt hart an das der Ambition. Die Einzelkämpfer-Gruppe scheint die Grenze ihres kompliziert-einfachen Territoriums erreicht zu haben. Die Frage wird sich stellen, was dahinter liegt.

„Live“ von Nik Bärtsch’s Ronin ist erschienen bei ECM.

Aus der ZEIT Nr. 41/2012