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Die größte Plattensammlung der Welt

 

Glücksfall der freien Bildung: Der 19-jährige King Krule ist ein alleshörender Folk-Antreiber, den der DSL-Anschluss im Elternhaus genauso geprägt hat wie die erste Gitarre.

© XL Recordings
© XL Recordings

Archy Marshall hat früh gelernt, schnell zu sein. Archy Marshall hat überhaupt alles früh gelernt. Er ist gerade 19 Jahre alt und gilt schon seit seiner ersten, 2010 veröffentlichten Single Out Getting Ribs als britische Songwriter-Hoffnung. Die Sache mit der Schnelligkeit aber kommt daher, dass er seine frühsten Aufnahmen im Südlondoner Kinderzimmer mit unzureichender Software machen musste: Seine neuen Tracks sich damit nur einen Tag abspeicherten. Wenn Archy nicht fertig wurde, musste er am nächsten Morgen von vorn anfangen. Die Vollversion seines Lieblingsprogramms inklusive unbegrenzter Speichermöglichkeiten konnte er sich nicht leisten.

Im Sommer 2013 hat Marshall solche Probleme nicht mehr. Mittlerweile nennt er sich King Krule, und er selbst ist die Vollversion. Sein Debütalbum 6 Feet Beneath The Moon ist Zeugnis einer Jugend mit DSL-Anschluss: Es verbindet Einflüsse aus britischem Folk und Punk mit Rockabilly, Hip-Hop, Dub und Garage und strömt sich dabei so zielsicher, als wäre es nie anders gedacht gewesen. Früher musste man das Plattensammeln jahrelang mit großem Ernst betreiben, um sich so einen Referenzrahmen zu schaffen. Marshall besitzt möglicherweise keine einzige CD, aber den Vorteil der späten Geburt. Im Internet stehen ihm große Teile der Musikgeschichte zur freien Verfügung.


6 Feet Beneath The Moon bedient sich reichlich, aber nicht willkürlich. Marshall baut seine Songs eher zusammen, als dass er sie schriebe. Sie beginnen in der Regel mit einer komplexen E-Gitarrenfigur und werden dann um Samples und programmierte Drums erweitert oder durch Hall- und Delay-Effekte verfremdet. Die Ergebnisse klingen skizzenartig und aufwändig zugleich. Man kann sich vorstellen, wie Marshall die Stücke aus opulenteren Versionen herauskürzt und sich immer wieder zur Mäßigung mahnt. Alles zu kennen ist eine Sache. Es richtig zu sortieren die andere.

Im ruckartigen Verlauf von 6 Feet Beneath The Moon spiegelt sich die Entstehungsweise des Albums. So wie Marshall auf der Suche nach Samples zwischen Spotify-Playlists und Soundcloud-Seiten wechselt, springt auch seine Platte vom traditionsbewussten Billy-Bragg-Protest des Eröffnungsstücks Easy Easy zu einer Ska-Karambolage wie A Lizard State. Sie gleicht weniger einem Album als einem Mixtape aus den Sounds der vergangenen drei Jahre, in denen Marshall als Edgar The Beatmaker und DJ JD Sports auch Hip-Hop für andere Künstler und fürs eigene Vergnügen produziert hat.

Geeint werden die Einflüsse und Interessen auf 6 Feet Beneath The Moon durch Marshalls erstaunliche Stimme, einen früh gereiften Bariton, der Sehnsucht, Verbissenheit und Abscheu in nur einer Silbe zum Ausdruck bringt. Als Sänger versteht sich Marshall trotzdem nicht. Er sei ein MC, sagt er, und tatsächlich bedient er sich auch ohne zu rappen bei genreerprobten Techniken. Eingangs-, Schlag- und Binnenreime tragen zur eigenwilligen Rhythmik der Songs bei, Marshalls Stimme erlaubt sich plötzliche Überschläge. Husten, Seufzer und andere Konversationsmerkmale geben seinen Geschichten selbst in ihren dunkelsten Momenten einen beiläufigen Duktus. „If you’re going through hell/ Well, keep going.“

Marshall geht nicht so dokumentarisch vor wie Mike Skinner auf den besten Alben von The Streets, führt dem Hörer aber ähnliche Bilder von grauen Betonklötzen, endlosen Nachmittagen und Beziehungen ohne Gegenwart oder Zukunft vor Augen. Skinner löste solche Probleme, indem er die Playstation anschmiss. Marshall reckt kurz die Faust zum Himmel, bevor er noch ein paar Bandcamp-Profile durchkämmt. Seine Texte sind so wütend und desillusioniert, wie man das von einem jungen Engländer erwartet. Sein Album zeigt aber auch einen Fluchtweg auf: Im Internet wartet die größte Plattensammlung der Welt.

„6 Feet Beneath The Moon“ ist erschienen bei XL Recordings/Beggars.