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Drängendes Hungergefühl

 

Die Schweizer Kammerpopvirtuosin Sophie Hunger hat ihre Tour in einem Film verewigen lassen und veröffentlicht dazu eine Superbonusdeluxe-CD. Was bitte soll das?

© Universal
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Jetzt ist sie wohl eine der Großen: Der französische Regisseur Jeremiah hat einen Dokumentarfilm über Sophie Hunger gedreht, hat sie in diesem Jahr mit ihrer Band auf Konzerttournee quer durch Europa begleitet, durch die Säle, die sie mittlerweile füllt, obwohl sie doch immer noch Kammerpop spielt. Musiziert Hunger jetzt also in einer Liga mit Bob Dylan und den Rolling Stones?

Auf ihre besondere Berner Art tut sie das ohnehin schon lange. Was das Publikum an Sophie Hunger beeindruckt, und was wohl auch den Filmemacher Jeremiah faszinierte, sind ihre Rockstar-Qualitäten: die Bühnenpräsenz, die Unmittelbarkeit, die Power. Auch wenn sie sich in feinfolkige Jazzpoparrangements verspinnt und ihre Texte mehr von Thomas Bernhard haben als von Robert Zimmerman.


The Rules of Fire
heißt der Dokumentarfilm, ein Bezug auf zehn private Gebote, die Hunger sich zu beachten vorgenommen hat. „Accept that you will never be Jesus Christ or Leonardo da Vinci“ ist so eine, „know that Charlie Chaplin was a great businessman and that Bob Dylan tried to look like him“ eine andere. Was Hunger von Chaplins Geschäftstüchtigkeit lernt oder daraus, weder Christus noch da Vinci sein zu können, bleibt offen.

Andere Maximen sind deutlicher in Hungers Werk erkennbar: never explain yourself or your work, „never stop a song„, „never try to please„. Nichts erklären müssen, kein Lied abzubrechen, sich nicht anbiedern: Seit ihrem zu Hause aufgenommenen Debütalbum Sketches On Sea von 2006 ist die 1983 geborene Diplomatentochter, die eigentlich Emilie Jeanne-Sophie Welti heißt, einen konsequenten Weg gegangen. Daran hat auch der Major-Label-Vertrag mit Universal 2008 nichts geändert.

Eine Doppel-CD mit Live-Aufnahmen erscheint zum Film. Auf einer, The Live, sind aktuelle Auftritte dokumentiert, auf der anderen, The Archive, ältere. Darunter finden sich drei unveröffentlichte Songs, zum Beispiel Nüt aus einem ihrer ersten Radioauftritte von 2008. Wir lernen nichts Neues über die Hunger; dass sie Melancholie und Humor ebenso zu verbinden weiß wie fragilgliedrigen Folk und angeschmutzten Kaschemmenrock, das wussten wir schon. Verspielte, manchmal verschrobene Texte in mehreren Sprachen, von Schwyzerdütsch und Hochdeutsch bis Englisch und Französisch – kannten wir schon.

Ja, doch, klar, es ist eine tolle Platte: Sie fängt das Hungergefühl überzeugend ein und entführt in die Oldenburger Kulturetage, das Hamburger Kampnagel oder das Pariser Trianon zu feinen Abenden mit hochintelligenter Musik. Denn nicht nur schreibt Sophie Hunger tolle Songs und singt sie mit Superstimme, auch die Band ist hervorragend, was auf diesen Live-Aufnahmen besonders zur Geltung kommt. Aber eben: Auch das wussten wir schon.

Umso stärker tropft der Wermut: Ist es denn schon so weit, dass Hunger-Konzerte in den nostalgisch getönten Rückspiegel rücken? Gehören ihre Lieder denn schon ins Archiv? Muss das Stylishes-Buch-plus-zwei-CDs-plus-Film-DVD-Deluxe-Geschenkset wirklich schon sein?

Na gut: Jeremiah ist nicht Martin Scorsese, der Dylan und die Stones im hohen Alter musealisierte. Und Weihnachtsgeschenke kann man immer gebrauchen.

„The Rules of Fire“ von Sophie Hunger erscheint am 6. Dezember bei Two Gentlemen/Roughtrade.