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Wohin der Sound uns treibt

 

Näher an Nirvana und Kraftwerk als an traditionellen Blue Notes: Mit „Tubes And Wires“ sprengt der Saxofonist Niels Klein die Begriffe des Jazz.

© Florian Ross
© Florian Ross

Wüste, irgendwo im interstellaren Raum-Zeit-Kontinuum. Weit hinten Felsen, am nachtgrünen Firmament blinken Sterne. Links vorne eine Figur: Astronaut oder Roboter, Mensch oder Maschine – das ist in der Comicperspektive des Covers von Tubes And Wires nicht zu unterscheiden.

Tubes And Wires ist ein Quartett um den 1978 in Hamburg geborenen, heute in Köln lebenden Saxofonisten Niels Klein. Neben seiner Stellung als einer der beiden Leiter des Bujazzo (der bundesdeutschen Institution zur Exzellenzförderung im Jazz) ist Klein vor allem als ein sehr facettenreich und farbig schreibender Komponist und Arrangeur für größere Ensembles hervorgetreten.

Mit Tubes And Wires startet er nun eine Expedition in Parallelgalaxien des Sounds, zu Röhren und Kabeln, in die analoge Geschichte und die digitale Gegenwart der Klangerzeugung beziehungsweise seiner Weiterverarbeitung.

Klarinetten, Gitarren und Bass, ein elektrisches Rhodesklavier, analoge Synthesizer und ein Harmonium sowie Schlagzeug: Was sich zunächst liest wie ein konventionelles Instrumentarium aus den Grenzbezirken zwischen Jazz und Rock, klingt deutlich anders. Vielfältiger, überraschender und aufregender, in diversen Traditionen verwurzelt und nach Neuem strebend zugleich.

Klein hat seine Klarinetten mittels elektronischer Effektgeräte in „elektronische Blas-Orgeln“ verwandelt und damit sein klangliches Spektrum radikal erweitert, sodass er neben der beweglichen Zerbrechlichkeit des Instruments auch mit jedem Keyboard oder jeder Breitwandgitarre gut mithalten kann. Hanno Busch an den Gitarren (und gelegentlich auch am Bass) sowie Lars Duppler an den Keyboards flankieren diese Sounds mit der ganzen Bandbreite ihrer klanglichen Möglichkeiten, und am Schlagzeug verwandelt Jonas Burgwinkel den Wolkenflug der Klänge in eine gerichtete Bewegung, setzt für manche Momente einen Groove auf den Backbeat, löst ihn wieder auf, verschiebt Akzentgewichte und mischt sich dann in den flotten Taumel der Melodietöne ein.

Zusammen erzeugen Tubes And Wires einen opaken Gruppenklang, der näher an Nirvana oder Kraftwerk liegt, am Zirpen der Elektronen und den Rückkopplungswolken des Grunge als am edlen Holz konventioneller Jazzbands.

Aber dann lassen die vier Musiker die Zügel locker und beginnen ihr Spiel im Kaleidoskop der Klänge. Permanent verschieben sich darin die Soundpartikel, brechen sich, spiegeln sich und setzen sich immer wieder neu zusammen. Mit der Beweglichkeit der Jazzmusiker erzeugen Tubes And Wires einen Rückkopplungszirkel von Aktion und Reaktion, der die Energie freisetzt, sie von einem Stern zum nächsten und immer weiter zu führen. In die Felsen, in die Wüste, einfach dorthin, wohin der Sound weist.

„Tubes And Wires“ von und mit Niels Klein ist erschienen bei nWog Records/Edel kultur.

Aus der ZEIT Nr. 8/2014