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Sex aus der Chipstüte

 

Alt-J sind die emsigsten Streber der englischen Rockmusik. Ihr zweites Album „This Is All Yours“ unterstreicht das mit einer überwältigenden Leistungsschau. Leider will es auch erotisch sein.

© Laura Coulson
© Laura Coulson

Dass man über Sex nur auf Englisch singen kann, gehört zu den tocotronischen Erkenntnissen, die sich im Lauf der Jahre bewährt haben. Dass deshalb noch lange nicht alle Engländer über Sex singen können, beweisen Alt-J mit dem Song Every Other Freckle auf ihrem neuen Album This Is All Yours.

I’m gonna paw paw at you / Like a cat paws at my woolen jumper„, droht der Frontmann Joe Newman. Außerdem: „I’m gonna turn you inside out / And lick you like a crisp packet„. Die Erotik ist tot, und in Leeds liegt sie begraben.

Alt-J kommen aus der nordenglischen Stadt ohne Musikszene und haben es als Außenseiter zu beachtlichen Erfolgen gebracht. Ihr Debütalbum An Awesome Wave verkaufte sich bisher mehr als eine Million Mal und wurde 2012 mit dem wichtigsten britisch-irischen Kritikerpreis ausgezeichnet. Die Band verband darauf Art-Rock aus der Radiohead-Schule mit modernen R’n’B-Einflüssen und A-Cappella-Passagen. Es klang nicht besonders originell, in seiner Kunstfertigkeit aber beeindruckend.

Nun müsste man sich nicht an einigen missglückten Sexzeilen aufhängen, wenn sie nicht symptomatisch wären für This Is All Yours. Alt-J haben auch ihr zweites Album aus distinguierten Einflüssen herausgefiltert, zum Einsatz kamen nur die edelsten Geräte im Werkzeugkasten. Es wird 2014 wahrscheinlich keine weitere Platte mehr geben, die altenglische Gute-Nacht-Geschichten, ein Miley-Cyrus-Sample, etwas Akustik-Schrumm-Schrumm und Anspielungen auf den Gangsta-Rap der Niggaz Wit Attitudes (N.W.A) zusammenbringt.

Was auch immer Alt-J aber in die Waagschale werfen: Es wirkt eher erlernt als inspiriert, es klingt nach einer engagierten, dabei jedoch hüftsteifen Band. Die bluesige Single Left Hand Free ist ein relativ unverblümtes Zugeständnis an den US-Markt, von Alt-J angeblich in 20 Minuten geschrieben und erst nachträglich aufs Album genommen worden. Der Song bleibt ein isoliertes Einzelteil der Platte, ebenso wie das 69-sekündige Blockflöten-Zwischenspiel Garden Of England. Es scheint, als machten sich Alt-J damit über ihr eigenes Musterschülerimage lustig.

Dabei ist This Is All Yours am besten, wenn die Band ihre Strebsamkeit als Stärke begreift. Alt-J können sich wochenlang im Studio verkriechen, unter Bergen aus Equipment verloren gehen und schließlich mit einem Stück wie Leaving Nara zurückkehren, das klassisches Songwriterinstrumentarium, am Computer zerkleinerte Beats und mehrstimmigen Knabenchorgesang zu einem kleinen Drei-Minuten-Kunstwerk verdichtet. Was sie nicht können: Es auch noch cool klingen zu lassen.

Müssen sie aber auch nicht. Die Möglichkeiten, die sich Alt-J mit dem Erfolg von An Awesome Wave erspielt haben, gehen weit über das hinaus, was sich eine gewöhnliche Rockband heute überhaupt noch leisten kann. Sie dürfen verrückte Professoren sein, das Studio zu ihrem Komplizen machen und vor sich hin forschen, ohne den Kalender allzu streng im Auge zu behalten. Ihre Zukunft liegt im Gesamtkunstwerk. This Is All Yours aber will nicht nur klug sein, sondern auch sexy. Es sehnt sich ausgerechnet nach Dingen, die sich selbst die fleißigste Band der Welt nicht erarbeiten kann.

„This Is All Yours“ von Alt-J ist erschienen bei Infectious/PIAS Recordings/Rough Trade.