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Songs gegen die Schwerkraft

 

Mit Weyes Blood möchte man sich dorthin verirren, wo kein Handy mehr Empfang hat. Auf „The Innocents“ besingt die Amerikanerin das typische Coming-of-Age-Programm. Diese Stimme!

© Shawn Brackbill
© Shawn Brackbill

Natalie Mering singt wie ein Krokodil mit ausgehängtem Kiefer, das sagt sie zumindest selbst. Auf The Innocents, ihrem zweiten Album unter dem Künstlernamen Weyes Blood, beeinflusst die Stimme der Musikerin aus Pennsylvania das Geschehen so vollständig, wie selten ein einziges Instrument eine Platte bestimmt. Und was sich alles hineinhören lässt in diesen Gesang: Echos aus dem Märchenwald, die Klagelieder einer Burgverlies-Marie und sicher auch irgendetwas mit Feen und Prinzessinnen.

Tatsächlich ist es vor allem die Klarheit von der Stimme, die auffällig ist. Mering singt so austrainiert wie eine Musterschülerin am Konservatorium und gleichzeitig so unbedarft wie Macaulay Culkin vor dem Badezimmerspiegel. Obwohl sie ihren Gesang durch zahlreiche Filter und Effektgerätschaften jagt, klingt ihre Performance in erster Linie ungefiltert. Die Stimme ist das letzte Merkmal der Unschuld auf The Innocents, einem Album, über dem sich großes Unheil zusammenbraut.

Natalie Mering ist 26 Jahre alt und beginnt langsam, sich erwachsen zu fühlen. Ihre mit Ukulele, Akustikgitarre, Klavier und Schrottplatz-Geräuschen ausgestalteten Folksongs handeln von ersten Erniedrigungen und Ernüchterungen, es geht um ernste Beziehungen und ihre Enden, Verlustängste und Vereinsamung, das ganze Coming-of-Age-Programm. Mit Land Of Broken Dreams, dem ersten Stück auf The Innocents, dreht sie nicht nur den Titel eines jüngeren Songs von Bruce Springsteen um, sondern auch dessen Durchhalte-Botschaft: „We were just born to buy, then die / And change nothing.

Solche lebensverneinenden Tendenzen finden im Sound von The Innocents ihre Entsprechung. Immer wieder durchbrechen Störgeräusche den Vortrag, kleinere Lärmbelästigungen oder eine verschwommene Gesangsspur, die das Klangbild aus dem Rahmen heben. Darin manifestiert sich nicht nur Merings Vergangenheit im improvisierenden Krach-Kollektiv Jackie-O Motherfucker. Auf The Innocents ist der Noise immer auch ein Zeichen der aufgebrauchten Unschuld.

Natürlich muss man diesen Umstand nicht allein auf Mering beziehen. The Innocents lässt sich auch als Album begreifen, auf dem eine vermeintlich heile, auf jeden Fall vergangene Folk-Welt von der Gegenwart eingeholt wird. Das Natürliche und das Schöne haben einen schweren Stand bei Weyes Blood. Sie müssen sich immerzu verteidigen gegen artifizielle Geräusche und Alltagsrauschen, die Mering als Repräsentanten von Hässlichkeit und Unbehagen ins Spiel bringt. Vielleicht hätte Sandy Denny ähnliche Songs geschrieben, wenn sie neben ihren Liedern und Lebensproblemen auch noch Profile bei Facebook, Instagram, Twitter und Co. hätte pflegen müssen.

The Innocents umreißt die Misere des reinen Künstlerherzens, das sich mit den Ablenkungen und Überforderungen der Realität herumplagen muss, in einer ebenso konkreten wie poetischen Sprache. Am Ende des Albums zeigt Bound To Earth, in dem die Störgeräusche sicher nicht zufällig fehlen, sogar einen möglichen Ausweg: Die Bodenhaftung des eigenen Körpers müsse man überwinden, singt Mering, alles Unwesentliche abstreifen und das Tor zur Transzendenz damit aufstoßen. So aufgeschrieben klingt das natürlich furchtbar kitschig. Aus dem Mund von Weyes Blood aber wie die Wahrheit.

„The Innocents“ von Weyes Blood ist erschienen bei Mexican Summer/Alive.