Rihanna wurde Opfer männlicher Gewalt. In ihrer Musik thematisiert sie das nicht. Dennoch ist „Rated R“ das düsterste R’n’B-Album seit Langem.
In der Nacht des 8. Februar dieses Jahres fanden Polizisten in einer vornehmen Wohngegend von Los Angeles eine sichtbar verletzte Frau, sie saß benommen in einem Lamborghini. Die Frau wies sich als Robyn Fenty aus, weltweit bekannt unter ihrem Künstlernamen Rihanna. Die Beamten des LAPD fragten, was passiert sei, sie antwortete: „Er hat mich zusammengeschlagen.“ Wer? „Mein Freund, Chris Brown.“
Die 21-jährige Rihanna und der 20-jährige Brown waren zu diesem Zeitpunkt gefeierte Jungstars des R’n’B, beide hatten binnen kürzester Zeit Millionen Platten verkauft. Offenbar war ein Streit zwischen dem damaligen Paar eskaliert, der mutmaßliche Tathergang wurde bald darauf bis in die kleinsten Details bekannt. Außerdem veröffentlichte die Boulevard-Website TMZ ein Foto, das die Polizei vom schlimm zugerichteten Gesicht Rihannas gemacht hatte. Brown stellte sich und kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Sein Opfer schwieg.
Kurz vor der Veröffentlichung ihres neuen Albums Rated R, gab Rihanna nun dem Fernsehsender ABC ein Interview zu den Geschehnissen. Ob sie wollte oder nicht, sie stellte so durch den zeitlichen auch einen inhaltlichen Zusammenhang her zwischen Leben und Werk, Tat und Platte; jedenfalls befeuerte sie eine aus dem Hip-Hop bekannte Erwartungshaltung, dass jede musikalische Äußerung beglaubigt sei durch authentisches Erleben.
In dessen Zwillingsgenre, dem modernen R’n’B, ist Authentizität aber eigentlich nicht vorgesehen, das überwiegend weiblich besetzte Genre funktioniert eher wie ein Hochglanzmagazin: Es werden Träume von Sex und Konsum inszeniert, die Sängerinnen sind bloß Darstellerinnen eines Lifestyle-Schauspiels. Gerade Rihanna erschien als perfekte Projektionsfläche, weil sie keine dramatische biografische Erzählung besaß. Sie war ein Star ohne Eigenschaften.
Jetzt hat sie eine Geschichte, eine traurige als Opfer männlicher Gewalt. Die Frage war nun, ob diese Geschichte auf Rated R thematisiert wird. Wird sie nicht. Stattdessen wird Rihanna als Figur noch radikaler fiktionalisiert – als eine Art Hybridwesen, eine Pop-Terminatorin. Das Fleisch ist echt, die Gefühle nicht. Die sind so erfunden wie die meist durch den Computer gejagte Stimme Rihannas.
Rated R ist das wohl düsterste R’n’B-Album der letzten Jahre. In die ersten acht der insgesamt 13 Songs fällt überhaupt kein Lichtstrahl, spät erst gewährt die Platte eine vage Aussicht auf Katharsis. Davor klingt sie, als habe das Produzententeam kalten Maschinenschweiß vertonen wollen: Die dumpfen, langsamen Bassbeats lassen die Lieder bedeutungsschwanger auf der Stelle treten, dunkel-technoide Soundspuren, Piano-Sprengsel und synthetische Streicher lockern das permanente Dräuen manchmal auf, doch dann jault gleich als dramatischer Effekt eine grunzstupide Rockgitarre los.
Subtil ist das nicht, aber es wirkt. Das gilt auch inhaltlich. Besonders deutlich wird das bei der ersten Single Russian Roulette, die man nur als Allegorie begreifen kann: Rihanna und ein Mann schieben sich einen Revolver zu, am Ende fällt ein Schuss, wer verloren hat, wird nicht verraten. Man kann das Lied als Rache- oder Freitodfantasie verstehen, auch als doppeltes Spiel mit der Erwartung, Rated R sei eine Art akustischer Schlüsselroman.
Das bleibt in der Schwebe, und das Coverfoto der Single fügt dem noch ein sinnfälliges Bild hinzu: die nackte Rihanna, eingeschnürt in Stacheldraht. Wie gefangen erscheint sie im schlimmsten Stereotyp der Popkultur, nämlich dass der weibliche Körper dem Manne allzeit verfügbar sei. Zugleich aber ist Rihanna auf diesem Foto endgültig unberührbar. Spekulativer und komplexer wird Massenmusik im Moment nicht.
„Rated R“ von Rihanna ist erschienen bei Def Jam/Universal
Dieser Text ist abgedruckt im Musikspezial der ZEIT Nr. 49/2009.