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Die Schafwollunterhosen aus

 
In Schlafzimmern und Pubs nahm der Brite Bill Leader ein Vierteljahrhundert lang kärgste Lieder auf. Die Kompilation „Never the Same“ entreißt sie dem Vergessen und beflügelt die Fantasie des Hörers.

Honest Jon's Never The Same

Schließt man die Augen, kommen die Bilder. Knisternd läuft die Platte an. Schmalzstullen auf dem kargen Holztisch, eine Ziege im matschigen Hof. Der Mann kommt in die Küche: „Schatz, was gibt’s zu essen?“ Die Frau: „Kartoffeln mit Kartoffeln, wie gestern.“ „Und vorgestern“, sagt er. Eine Gruppe Schuljungen stapft durch den Schnee. Auf dem Weg zum Dorfpauker ziehen sie sich noch schnell die Schafwollunterhosen aus. Kratzen so. Da frieren sie lieber.

Die Kompilation Never the Same enthält britische Folkmusik aus den Siebzigern. Und das ist eine sehr trockene Angelegenheit, Musik wie Zwieback. Traurige Lieder, genügsam arrangiert, ein karger Ohrenschmaus. Manchmal klagt sich eine Stimme allein durch zähe vier Minuten. Lebensfreude klingt anders. Lässt man sich aber auf diese Unwirtlichkeit ein, so lernt man sie schnell schätzen. Dann fühlt man die Wärme in den Stimmen – Dick Gaughan, Dave Burland und Tony Rose heißen drei der Sänger. Selbst wenn man ihren Dialekt nicht versteht, ahnt man, wovon sie erzählen. Die Aufnahmen sind unmittelbar und intim, man wähnt sich mit den Musikern in einem Raum. Sie richten sich nicht an ein großes Publikum, hier wird für einen kleinen Kreis von Zuhörern musiziert. Gesänge der Familie, Gesänge im Pub. Bis auf Lal Watersons Beiträge sind es traditionelle Lieder.

Alle Stücke des Albums stammen aus den Archiven des Produzenten Bill Leader. Von den späten Fünfzigern bis in die frühen Achtziger fing er in Großbritannien den Folk ein. Seine Aufnahmetechnik ist für ihre Schlichtheit bekannt, gerne nahm er im Schlafzimmer auf: Der Sänger saß mit seinem Instrument auf dem Bett, sein Gegenüber drückte die Aufnahmetaste. In den Siebzigern betrieb Bill Leader zwei eigene Labels. Leader hieß das eine, es widmete sich „dem Traditionellen, dem Wesentlichen“. Das zweite Label Trailer sollte unterhalten. Es ist kaum zu glauben, die Stücke auf Never The Same stammen alle aus dem Katalog von Trailer. Wie trocken die Veröffentlichungen von Leader Records gewesen sein mussten, kann man nur ahnen. Harte Stulle ohne Schmalz? Musikalische Milchsuppe?

Die kleine Plattenfirma Honest Jon’s aus London hat an der ästhetischen Aufbereitung des alten Materials nicht gespart: Lackdruck, aufwendige Fotorecherche und profunde Texte geben zusammen mit der Musik ein rundes Bild einer Ära ab. Wer Never the Same runterlädt, hat nur den halben kargen Spaß.

Die Kompilation „Never the Same – Leave-Taking From The British Folk Revival 1970-1977“ ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Honest Jon’s Records

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