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Was Obama und Romney aus den Daten ihrer Wähler machen

 

Personalisierte Internetwerbung kann unheimlich sein. Das muss selbst Jordan Lieberman zugeben, der damit im politischen Betrieb der USA sein Geld verdient. Der Chef der Firma CampaignGrid denkt da etwa an Anzeigen für Schlankheitskuren, die jemand zu sehen bekommt, nachdem er bei einem Onlineversand die Hose eine Nummer größer bestellt hat als noch vor einem halben Jahr. Mit Wahlwerbung, die genau zugeschnitten auf deren Interessen an einzelne Gruppen ausgespielt wird, verhält es sich ganz ähnlich.

Eine Studie der Annenberg School for Communication an der Universität von Pennsylvania kam gar zu dem Ergebnis, dass 86 Prozent der Amerikaner etwas dagegen haben, wenn sie aufgrund ihres Abstimmungs- und Konsumverhaltens zum bevorzugten Ziel der Kampagnen werden. Lieberman, der für eine Vielzahl republikanischer Kongresskandidaten als Berater tätig war und das Wahlkampfteam des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch trainiert hat, lässt das kalt: „Niemandem gefällt das, aber es funktioniert.“

Dienstleister wie CampaignGrid haben Zugriff auf Unmengen von Daten, die Auskunft geben über den Großteil der amerikanischen Bevölkerung. Teils liegen diese Informationen beim Staat, etwa als Liste der registrierten Wähler. Erst seit etwa zehn Jahren gibt es USA-weit ein solches Verzeichnis. Name und Adresse gehören dazu, manchmal Alter und Geschlecht, je nach den Regeln in den einzelnen Bundesstaaten, nicht viel mehr. Hilfreich sind natürlich auch die eingetragenen Parteimitglieder oder Telefondatenbanken. Doch richtig spannend wird es mit dem, was professionelle Datenanbieter wie InfoUSA oder Acxiom gesammelt haben: welches Auto jemand gekauft hat, sein Bildungsabschluss, wo er arbeitet, welche Zeitschriften er abonniert, welcher Religion er angehört, welche Musik er hört oder welche Sportveranstaltungen er besucht.

Hinzu kommen viele weitere Informationen, die aus den digitalen Aktivitäten der Amerikaner abgeleitet werden: Facebook-Seiten, die einem gefallen, Newsletter oder Services, für die man sich angemeldet hat. Datensatz um Datensatz entsteht ein ganz individuelles und umfassendes Bild von den Vorlieben und Interessen eines Menschen. Die Auflagen für die Nutzung solcher Daten sind dabei für die Kampagnen deutlich geringer als für eine kommerzielle Nutzung in der freien Wirtschaft.

Von Tür zu Tür gehen – das bleibt wichtig

Auf seinem Rechner ruft Werbeprofi Lieberman eine Karte auf, die all diese Informationen umgesetzt hat. Blaue Punkte sind die Demokraten, rote die Republikaner, violett die unentschlossenen Wähler oder solche, über die nicht genügend Informationen vorliegen. Einen Moment lang schaut er an seinem Schreibtisch auf dem Capitol Hill in Washington aus wie ein kleiner Junge, der vor einem Videospiel sitzt. „Also gut, was suchen wir? Weiße, gut verdienende 40- bis 50-Jährige in Virginia, die sich an Gartenarbeit erfreuen und mehr als zwei Kinder haben – kein Problem.“ Die Wahlkämpfer wollen genau diejenigen Menschen, für die ein bestimmtes Thema wie Gesundheitsversorgung oder Bildungspolitik relevant ist, mit der richtigen Botschaft ansprechen. Und Firmen wie CampaignGrid können auf der Basis einer riesigen Datenbank und anhand von statistischen Modellen entsprechende Wählergruppen identifizieren.

Jeder Punkt ein Wähler: Rot für einen Republikaner, Blau für einen Demokraten

Das Auswerten verfügbarer Daten, um mehr über die Wähler zu wissen, ist natürlich nicht neu. Schon früher war dies die Grundlage für gezielte Postzusendungen oder Telefonanrufe. Die freiwilligen Wahlkampfhelfer trugen dafür Informationen über die Menschen zusammen, mit denen sie sprachen. Heute hat sich für Michael Simon, der 2008 für Barack Obamas Kampagne das voter targeting steuerte und weiterhin als Berater aktiv ist, die verfügbare Datenmenge vervielfacht und die Geschwindigkeit drastisch erhöht, mit der neue Informationen in den Wahlkampfprozess einfließen. Parallel haben sich die technischen Möglichkeiten für gezielte Werbung rasant weiterentwickelt. Aber: „Der klassische Wahlkampf, von Tür zu Tür zu gehen, mit den Menschen zu sprechen, hat weiter eine große Bedeutung“, sagt Simon.

Die neuen Möglichkeiten bedeuten für die Kampagnen vor allem mehr Effizienz. „Es geht darum, seine Ressourcen sinnvoll einzusetzen. Und die wichtigsten Ressourcen sind nun einmal begrenzt: die Zeit und Energie, die alle Wahlkämpfer inklusive dem Kandidaten aufbringen können – und natürlich das Geld“, sagt Simon. Früher seien die Ergebnisse der vorherigen Wahlen der maßgebliche Indikator gewesen, der Wahlkampf geographisch nach Postleitzahlen organisiert, nicht nach Individuen. „Man wusste etwa: Dieser Straßenzug wählt immer mehrheitlich republikanisch, wenn wir dorthin gehen, verschwenden wir unsere Zeit, weil wir bei zu vielen Republikanern klingeln müssen, die wir ohnehin nicht überzeugen können. Aber vielleicht hätte es sich dennoch gelohnt, wenn man genau gewusst hätte, mit wem man reden kann.“

Was für den Wahlkampf auf der Straße gilt, spiegelt sich für Jordan Lieberman bei der Werbung. Noch immer geben die Kandidaten Millionen von Dollar für TV-Spots aus. „Aber das ist völlig ineffizient, weil ich massiv Geld ausgeben muss und am Ende doch viel zu viele Menschen erreiche, die uninteressiert sind oder sich sowieso nicht überzeugen lassen werden – und viel zu wenige, bei denen es sich lohnt“, sagt der Onlinewerber. Die Aufmerksamkeitsspanne sei heute einfach zu kurz, angetrieben durch ein ständig wachsendes Medienangebot. „Als ich aufgewachsen bin, hatten wir nur eine Handvoll Kanäle, mein Sohn kann zwischen einigen Hundert auswählen.“

Hope und Change sind als Marke aufgebraucht

Patrick Ruffini, Chef der Agentur Engage, konservativer Blogger, bei der Wahl 2004 Webmaster der Bush/Cheney-Kampagne und später treibende Kraft hinter den Onlineaktivitäten der republikanischen Partei, sieht in einer gezielteren Ansprache aber nicht nur für die Politiker einen Vorteil: „Man kann heute sehr viel schneller ermitteln, was funktioniert und was nicht. Und die Wähler haben auch etwas davon: Ob ich nun direkt mit ihnen spreche oder sie eine auf sie zugeschnittene Anzeige im Internet sehen – wenn es dabei um Themen geht, die ihnen wirklich etwas bedeuten, dann ist das doch nur gut.“

Man dürfe aber die Wahlwerbung und andere Bemühungen der Kampagnen auch nicht überbewerten. „Es kommt nach allem, was wir wissen, viel stärker darauf an, was der Kandidat selbst tut und sagt, alles andere ist nur eine Verstärkung“, sagt Ruffini. Es sei deshalb entscheidend, alle Botschaften und Kanäle darauf auszurichten, ein einheitliches Bild zu zeichnen. Genau aus diesem Grund hält er den zweiten Wahlkampf Obamas auch für eine größere Herausforderung als den ersten. „Hope und Change waren 2008 eine durchgängige Marke, die alles zusammengehalten hat. Die ist aber nach vier Jahren aufgebraucht. ‚Ich brauche mehr Zeit, dann wird wirklich alles besser‘ – das kann man viel schlechter vermarkten“, sagt Ruffini.

Die rasant wachsende Datenmenge und das immer raffiniertere politische Marketing sind für Michael Simon aber nur eine Seite der sich wandelnden Kommunikation zwischen Wählern und Kandidaten, ja Politikern überhaupt. „Das Internet ist keine Einbahnstraße, kein reiner Auslieferungskanal für maßgeschneiderte Botschaften. Die Menschen sagen heute ihre Meinung immer häufiger von selbst, ohne dass man sie fragen muss“, sagt er. Ihnen zuzuhören und zu antworten, in einen Dialog zu treten, da gebe es noch viel zu tun. „Aber die Politik wird besser darin werden – sie muss es, und das ist für alle gut.“