Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Briefe über Deutschland (7)

 

Lieber Julian,

habe ich Dir eigentlich schon einmal erzählt, welchen Beruf sich meine Großmutter für mich ausgedacht hatte? Bischof! Ich musste in den letzten Wochen oft daran denken. Zum Glück scheiterte ich schon beim ersten Eignungstest – ich war fünf Jahre alt. Da gab es eine Andacht im Kindergarten und zwei Aufgaben: Weihrauchfass schwenken (dauernd) und Klingeln (nur zum Eingang und beim Segen). Mein Konkurrent war ein Schwächling, ungeeignet für die mühevolle Aufgabe des Schwenkens, unfähig, unbeobachtet die dreifache Menge an Weihrauch auf der Glut zu deponieren. Zum Segen stellte ich das Weihrauchfass auf den Boden, entriss dem laut aufklagenden Schwächling die Klingel und schüttelte sie so heftig, dass der Herrgott selbst es hören musste. Abruptes Ende der Andacht: zwei schallende Ohrfeigen.

Züchtigung und Strafe schienen damals notwendig in Kindergarten und Schule, ergänzt durch eine Art der Zuwendung, die Distanz auf ein mir unerträgliches Maß verringerte. Ich wehrte mich erfolgreich. Und machte die Naturwissenschaft zu meinem Beruf.

Und jetzt beschäftigt mich die Frage: Habe ich dich je geschlagen? Kam ich Dir, der gern meine Nähe suchte, je zu nahe, wenn Du eigentlich Distanz gewünscht hast? Das fragt Dich und sich

Dein Rich

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen, und sein Stiefsohn Julian, 30, Umweltberater aus Montreal