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Briefe über Deutschland (8)

 

Lieber Rich,

das Missbrauchsproblem kennen wir hier auch nur zu gut. Unsere amerikanischen Nachbarn sind es vor ein paar Jahren, wie üblich, mit großen juristischen Prozessen angegangen. In Kanada kommt eine weitere Dimension hinzu: Zwischen 1870 und 1996 wurden 150 000 Ureinwohnerkinder in sogenannte „residential schools“ weit weg von Heimat und Familien geschickt, um bekehrt und assimiliert zu werden. Was für die Spätkolonialherren Kiplings „Bürde des weißen Mannes“ war, hat Generationen von Ureinwohnern zerstört. Denn zu kultureller und familiärer Entwurzelung kamen allzu oft gewalttätiger, emotioneller und sexueller Missbrauch hinzu. Eine von der Regierung initiierte und von den Kirchen ausgeführte Katastrophe, unter deren Folgen auch heute noch viele Menschen leiden.

Ich selbst bin mit 16 von zu Hause ausgezogen, aber nicht wegen der Distanz zu Euch, sondern um neue Abenteuer zu finden und meine Horizonte zu erweitern. Unvorstellbar, wenn das durch eine Autorität forciert oder ich gar dabei missbraucht worden wäre. Ihr hättet Euch nie verziehen, und ich mir auch nicht. Für die mehr als 100 Jahre Missbrauch in Kanada hat sich Papst Benedikt vor Kurzem – wenn auch wieder halbherzig – entschuldigt. Die katholische Kirche hat mit solchen Entschuldigungen unter ihrem deutschen Papst Schwierigkeiten. Wie viele Deutsche sich wohl noch gern an den „Wir sind Papst“-Jubel erinnern?

Das fragt sich
Dein Julian

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Julian Lee, 30, Umweltberater aus Montreal, und sein Stiefvater Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen.