Angeregt durch den Bildband Architektur Nürnberg 1900–1980 von Klaus-Jürgen Sembach mit wunderbar schlichten Schwarz-Weiß-Aufnahmen, entschloss ich mich, einige der noch vorhandenen Bauten mit ähnlicher Perspektive zu fotografieren. Ich wollte den momentanen Zustand von wichtigen Nürnberger Bauwerken und Ensembles des letzten Jahrhunderts festhalten. Mein Werkzeug war eine kleine Digitalkamera, mit der man ohne Aufsehen und schnell arbeiten kann. Was der historische Fotograf am Aufnahmestandpunkt an seiner Kamera einstellen musste, erledigte ich mit entsprechender Software zu Hause am Computer. Zunächst war ich erstaunt, in welch fast unverändertem Zustand sich die alten Bauwerke präsentierten. Ich war überrascht, mit welcher Genauigkeit und sozialer Weitsicht etwa die Gartenstadt oder die Wohnsiedlung am Rangierbahnhof geplant und realisiert worden waren.
Erst auf den zweiten Blick bemerkte ich – wie etwa in dieser Wohnanlage an der Carl-von-Linde-Straße –, dass zwar die Bausubstanz weitgehend erhalten geblieben war, doch eine Vielzahl von Details entweder verloren gegangen oder neu hinzugekommen war. Da war eine Mauerumfassung verschwunden, dort ein Lichtschacht zugemauert worden, Anbauten verstellten den Blick, Fenstersprossen fehlten, es gab neue Werbeflächen, Läden, Grünstreifen mit hässlichen Bodendeckern, Mülltonnen, Altglascontainer, Handymasten, Satellitenschüsseln und eine Unzahl von aufdringlich designten Blechkisten, die überall herumstehen und so tun, als würden sie schon immer zum Stadtbild gehören. Kurz: Die einstige Monumentalität und Größe der meisten Bauwerke wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen. Als hätte sich der Denkmalschutz aus den Randzonen der Stadt verabschiedet. Nürnberg präsentiert sich gern als mittelalterliche Stadt und vergisst oft seine wichtige neuere Architektur.
Hans Grasser, Nürnberg